Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition)
grub, dasselbe Stück Universum einnahm wie in diesem Moment mein Körper, den Geruch der Straße und der trockenen Erde einatmete. Sie drang in meine Gedanken ein, als würde ihre Erinnerung in meinen Kopf projiziert. Ein geradezu klaustrophobisches Gefühl überkam mich.
Ich kippte den Kübel ein wenig und zog die ganze Pflanze behutsam mitsamt Wurzeln, Erde und allem, was dazugehörte, heraus. Auf dem Boden lag ein kleines Päckchen – eingewickelt in mehrere Schichten Plastikfolie und mit Klebeband verschlossen. Ich setzte die Pflanze zurück in den Topf und achtete darauf, dass es nicht so aussah, als habe sich jemand daran zu schaffen gemacht. Dann nahm ich das Päckchen, marschierte los zur nächsten U-Bahn-Station und fand schließlich den Weg zurück zu meinem Hotel, auch wenn dieser wahrscheinlich unnötig kompliziert war. In meinem Zimmer angekommen, wickelte ich das Notizbuch aus der staubigen Folie. Es war alt und offenbar irgendwann mal nass geworden, jetzt allerdings war es trocken.
Tracy Wyatt (1966 – 1997)
Jede Geschichte hat einen Anfang und das hier ist meiner. Wenn ich Glück habe, verrottet dieses Buch einfach oder wird erst lange nach meinem Tod von irgendwelchen Archäologen entdeckt. Vielleicht findet es auch jemand und wirft es einfach weg, ohne sich weiter darum zu kümmern. Trotzdem mache ich mir vorsichtshalber die Mühe, die Namen der betroffenen Personen zu ändern, nicht etwa um Unschuldige zu schützen, sondern um meinen eigenen jämmerlichen Hintern zu retten, sollte eines Tages doch jemand diesen Worten Beachtung schenken.
Im Alter von siebzehn Jahren war ich todunglücklich in einen meiner Highschool-Lehrer verknallt. Er war neu, jung, trug eine Brille und wirkte äußerst seriös. Er sah immer aus, als strebte er im Geiste nach höheren Zielen, anstelle sich mit den alltäglichen Dingen zufriedenzugeben, die uns andere beschäftigten. Seine Stimme war ruhig und sanft. Man hätte meinen können, jemand wie er würde leicht Opfer von Spötteleien, stattdessen aber entfachten die naturgegebene Überlegenheit und Unnahbarkeit, die er ausstrahlte, unsere Fantasie und wir liebten ihn umso mehr dafür (wenn auch wohl niemand so sehr wie ich).
In diesem Text soll der Name dieses Lehrers Mister Wyatt lauten, obwohl wir ihn meistens Tracy nannten und er nichts dagegen zu haben schien. Er unterrichtete Englisch mit einer Leidenschaft, die an uns, ehrlich gesagt, verschwendet war, und doch lebte ich von Woche zu Woche nur noch für seinen Unterricht und schwelgte in träumerischer Vorfreude. Oft wartete ich am Ende seiner Stunden, bis die anderen weg waren, um ihm Fragen zu stellen, und erledigte meine Hausaufgaben mit bis dahin ungekanntem Eifer.
Mein Leben außerhalb der Schule hatte sich in einen Fluss voll reißender Stromschnellen verwandelt. Meine Eltern waren chronisch abwesend – jeder von ihnen lebte in seiner eigenen Welt. Ich litt unter Zweifeln und Einsamkeit und zu all den Gefühlswirren der Pubertät kam auch noch das Versprechen, das ich meinem Kindermädchen gegeben und womit ich den Grundstein für seinen Tod gelegt hatte. Meinen Freundinnen gegenüber ließ ich mir nichts anmerken. Im Allgemeinen galt ich als leicht überdurchschnittlich frech. Doch ich war eine Außenseiterin, tauchte in meiner Einsamkeit in immer größere Tiefen hinab und watete durch trübe Gewässer, wo ich Liebe und Verlustangst (Themen, die seither meine Gedanken dominieren) erforschte – und durcheinanderbrachte. Ich kann nur hoffen, dass es mich eines Tages in hellere Gefilde verschlägt.
Trotz der metaphorischen Äpfel, die ich ihm am Ende jeder Unterrichtsstunde darbot, und anderer Annäherungsversuche meinerseits zeugte Tracys Verhalten von bewundernswertem Anstand. Mir fiel auf, dass er im Umgang mit anderen Schülerinnen wesentlich unbeschwerter war, wohl um mich in meinem Interesse an ihm nicht zu bestärken. Allerdings schien er meine kreativen Schreibversuche zu schätzen und schlug mir vor, ihm meine Texte, die ich außerhalb des Unterrichts verfasste, zu lesen zu geben, was ich hin und wieder auch tat. Er nahm sich viel Zeit, um meine Arbeiten durchzugehen, und übte sanfte, aber stets konstruktive Kritik. Nach und nach gelang es mir, sein Vertrauen zu gewinnen, und er wurde entspannter in meiner Gegenwart.
Während mein achtzehnter Geburtstag näher rückte, gab ich mich der seligen Illusion hin, Tracy würde mich nur auf Abstand halten, weil ich noch minderjährig war, und
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