Die drei Lichter der kleinen Veronika
Veronika.«
Veronika schaute mit weiten Augen in die leuchtenden Flammen und auf den Engel. Sie sah noch, daß Magister Mützchen andachtsvoll in einer Ecke hockte, und sie hörte Mutzeputz leise schnurren. Dann kam eine unendliche Müdigkeit über sie, und sie schlief ein.
Aber der Engel an ihrem Bett blieb stehen und hielt seine Hand über die drei Lichter der kleinen Veronika.
2. Das Haus der Schatten
Am anderen Morgen erschien es der kleinen Veronika, als habe sie sehr tief geschlafen und als sei eine lange Zeit vergangen zwischen gestern und heute, nicht nur eine einzige Nacht. Und ihr war, als wäre sie zu einem neuen Leben in eine neue Welt geboren. Das kam, weil sie zum ersten Male im Hause der Schatten wirklich erwacht war. Gewiß hatte sie schon vorher im Haus der Schatten gewohnt, aber es war dies mehr eine körperliche Anwesenheit als eine seelische gewesen. Gelebt hatte sie im Garten der Geister, und im Hause der Schatten war sie nur halb bewußt umhergegangen – es war ihr nur etwas Gelegentliches gewesen, an das sie sich nicht gebunden fühlte. Doch nun war die Dämmerung gekommen, der Garten der Geister war im Schleier verschwunden, und das Haus der Schatten trat in ihr Bewußtsein. Das ist eine der Schwellen im menschlichen Dasein, und wir müssen sie alle überschreiten. Nur vergessen die Menschen das alles, sie vergessen, daß sie im Garten der Geister waren, und lächeln ungläubig, wenn ihnen jemand davon erzählt – ja, viele vergessen es auch, was sie später im Hause der Schatten erlebten, und sie denken dann, im ganzen menschlichen Dasein sei nur das wirklich vorhanden, was zu greifen ist und was nur dieser Welt angehört. Das eigentliche Leben aber spielt sein buntes Spiel mit all seinen Farben hinter den Dingen, die greifbar sind, und das Schicksal webt seine unsichtbaren Fäden zwischen dem Garten der Geister und dem Haus der Schatten und seinen vielen seltsamen Bildern. Man muß schon ein wenig vom Garten der Geister und vom Haus der Schatten in seiner Seele behalten, sonst findet man sich später nicht zurecht in den Wirrnissen des Daseins, und man muß an seine drei Lichter auf dem Altar des Lebens denken, sonst fällt man über die vielen Schwellen und Stufen, weil es dunkel ist und man sie nicht sieht.
Denn es ist ja ein jedes Haus ein Haus der Schatten, und es war nicht nur die kleine Veronika, die in einem Haus der Schatten lebte. Wir alle wohnen darin, wo wir auch sein mögen auf dieser Erde, und wir alle wandern über Stufen und Schwellen, die wir nicht sehen und die nur ein inneres Licht erleuchtet. Es ist schwer, über Schwellen und Stufen zu wandern, es ist traurig, in den Häusern der Schatten zu leben – vielleicht am schlimmsten für die, welche es gar nicht bemerken.
Es ist auch nicht immer so gewesen. Es war eine Zeit, von der noch alte Sagen und Märchen erzählen, da wohnten die Menschen in Tempeln und lichten Hütten. Das war in der Menschheit Jugendland. Aber dann stiegen die Menschen hinunter ins Dunkel, und aus ihren Taten woben sich Schicksale und bauten sich die Häuser der Schatten. Ihr alle, die ihr heute atmet, wohnt in ihnen, und es ist sicherlich oft sehr schwer und bedrückend, in ihnen zu wohnen. Und doch müßt ihr nicht traurig sein. Denkt an die kleinen Flammen, die euch allen leuchten wie die drei Lichter der kleinen Veronika – denkt daran, ihr, die ihr heute atmet, und durchleuchtet mit ihnen die Häuser der Schatten. Dann werden es einmal wieder Tempel und helle Hütten sein, in denen ihr wohnt.
Das sind freilich weite Wege, von einer Ferne zur anderen. Aber glaubt nicht, daß ihr sie umsonst gewandert seid. Die Tempel und hellen Hütten, die ihr im Jugendlande der Menschheit bewohnt habt, die hattet nicht ihr gebaut, und ihr lebtet darin wie die Kinder im Garten der Geister. Doch die neuen Tempel und die neuen Hütten, die aus den Häusern der Schatten erwachsen sollen, die werdet ihr selber gebaut haben mit euren eigenen Gedanken, und ihr werdet darin erleben, was bewußte Kindheit ist. Bewußte Kindheit ist Seligkeit.
Glaubt ihr nicht, daß es sich lohnt, dafür über viele Stufen und viele Schwellen zu gehen, auch wenn es ein weiter Weg ist von einer Ferne zur andern?
Es ist eine Ferne, die war, von der wir kommen.
Es ist eine Ferne, die sein wird, zu der wir wandern.
Baut ihr Tempel und helle Hütten, ihr, die ihr heute atmet.
Das alles wußte die kleine Veronika nicht, als sie im Hause der Schatten erwacht war. Sie war noch
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