Die drei Lichter der kleinen Veronika
nachdem er die Puppen umgeworfen hatte. Im Haus der Schatten aber klang es weiter wie ferner Trommelwirbel und ein langsam verlöschendes Singen der Marseillaise: allons, enfants de la patrie, de la patrie ...
Das Spielzimmer lag dunkel da, und die Puppen regten sich nicht mehr.
*
Als Veronika von ihrer Mutter und Tante Mariechen zu Bett gebracht wurde, war sie aus ihrer Ohnmacht wieder erwacht. Aber es war kein eigentliches Erwachen in dieses Leben. Die Spukgestalt in der zerlumpten Uniform war wohl verschwunden, und auch den Trommelwirbel und die Marseillaise hörte sie nicht mehr. Sie wußte auch, sie lag in ihrem Bett und war die kleine Veronika im Hause der Schatten. Und doch war sie es nicht ganz. Sie war seltsam losgelöst von ihrem Körper und von allem, was damit zusammenhing.
Ihre ganze Umgebung, die sonst so wirklich war, erschien ihr unwirklich, jedenfalls bei weitem nicht so deutlich und lebendig wie die Bilder, die an ihr vorbeizogen, so schnell, daß sie es mit den gewöhnlichen körperlichen Augen nicht hätte verfolgen können. Aber sie war ja nicht körperlich, sie war anders als sonst. Sie glitt gleichsam allmählich aus ihrem Leibe hinaus und stand neben ihm, so daß sie ihn vor sich liegen sah wie ein Abbild, das ihr ähnlich war, das aber nur noch eine Hülle bedeutete, nicht mehr sie selbst. Nein, sie war das nicht, vielleicht war es eines ihrer vielen Kleider, so wirkte es ungefähr auf sie. Sie fühlte sich außerhalb davon, aufrecht vor ihrem Bett, aber ohne mit den Füßen den Boden zu berühren. Ihr war es, als ob sie schwebe, und sie war auch kein Kind mehr, wie es ihr vorkam, sie war viel älter und größer, und alles, was sie umgab aus ihrem jetzigen Kinderdasein, wirkte auf sie kaum mehr als ein Traum, an den man sich ein wenig unklar erinnert.
Wirklicher, viel, viel wirklicher waren die bunten Bilder, die sich vor ihr abrollten wie auf einer endlosen Leinwand, eines mit dem anderen verwoben, als wären sie beinahe gleichzeitig da. Und nun glitt sie selber in diese Bilder hinein, als eine ihrer lebendigen Gestalten, und wurde fortgetragen vom Strom ihres Geschehens. All dies Geschehen aber war ihr bekannt, sie lebte gleichsam ein Leben, das sie schon einmal gelebt, zurück. Nur furchtbar schnell ging das alles vor sich, es gab gar keine richtige Zeit mehr, an die man sich halten konnte.
Ja, das kannte sie alles. Das waren die Straßen von Paris, aber sie lagen still und sonnig da, es war noch kein Grauen in ihnen, kein Blut und kein Geschrei der unheimlichen Menschen mit den roten Kokarden. Sie trug ein seidenes Kleid, und ihr zur Seite ging ein Kavalier mit Dreispitz und Degen – seltsam, wie er sie an Onkel Johannes erinnerte. Jenes hohe Portal mit den Heiligenfiguren war Notre-Dame, sie sah die Dämmerung der Kirche und die Ewige Lampe darin und bekreuzigte sich: Sainte Marie, conçue sans péché, priez pour nous ... Oh, wie viele Bilder glitten vorüber, immer neue, und immer war sie mitten darin. Nun wurde sie kleiner und immer kleiner, wieder war sie ein Kind und saß in einem alten Schloßpark unter blühenden Bäumen. War das nicht Michaille, wo sie aufgewachsen war? Neben ihr lag eine große Katze im Sonnenschein – am Ende war das Mutzeputz? Doch Mutzeputz hatte nicht solche schwarze Tupfen auf dem Rücken.
Dann aber veränderte sich das Bild. Aus dem Schloßgarten von Michaille wurde ein Garten der Geister. Ach, wann war sie doch zuletzt dort gewesen? War da nicht ein Käfer, der ihr sein Landhaus zeigen wollte, eine Elfe im Baum und ein Luftgeist mit Falterschwingen, der sie zur silbernen Brücke führte? Richtig, nun war auch die silberne Brücke wieder da, und jetzt sah sie das Wasser, über dem die Brücke gebaut war. Kristallklar war es und regte sich ohne Aufhören, lebendig in sich selber, ohne Wellen zu werfen. Sie tauchte tief hinein und badete darin. Aus lauter feinen Perlen bestand es, und es drang ganz in einen hinein, so daß man innerlich badete, mit all seinem Sein, und als ob alles in einem erneut und jung würde, wie an einem allerersten Morgen, den man sah und lebte. Alles war neu, war Jugendbeginn, und auch die Bilder, durch die man geglitten war, hatte man vergessen.
Doch es dauerte nicht lange. Das Wasser verlief sich wieder, neue Bilder erschienen vor Veronikas Augen, und wieder glitt sie weiter in ihrem Strom mit der gleichen Geschwindigkeit.
Das war Holland mit seinen Windmühlen. In dunklen, engen Gassen hockten hochgiebelige Häuser
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