Die drei Lichter der kleinen Veronika
Zeichen, Johannes? Es ist sehr dunkel geworden überall, wie mir scheint, und es reden keine Zeichen mehr zu uns.«
»Es geschehen heute noch Zeichen, Aron Mendel, und ich glaube und hoffe, Gott wird Sie nicht wandern lassen bis ans Ende Ihrer Tage.«
Johannes Wanderer geleitete Aron Mendel hinaus. Im Garten trafen sie Veronika. Veronika gab Aron Mendel die Hand und knickste. Sie sah ihn mit großen Augen an.
»Du trägst sehr schwer«, sagte sie, »wenn ich groß bin, werde ich dir helfen.«
»Dafür danke ich dir viele Male, Veronika«, sagte Aron Mendel. »Ich werde es nicht erleben, daß du groß wirst, und ich würde dich meine Last auch nicht tragen lassen. Sie ist zu schwer für dich. Aber du hast mir heute schon tragen helfen, als du das sagtest. Ich will daran denken auf meinem weiten Wege. Vielleicht beginnen die Zeichen doch zu reden.«
Aron Mendel trat durch die Gartenpforte auf die Landstraße hinaus und reichte Johannes Wanderer und Veronika die Hand zum Abschied. Dürr und groß ging seine gebeugte Gestalt im Licht der sinkenden Sonne ins Weite. Er hatte den Hut abgenommen, und der Wind spielte mit seinem weißen Haar.
Johannes Wanderer und Veronika sahen ihm lange nach.
»Onkel Johannes, ist Aron Mendel ein König?« fragte Veronika, »warum trägt er eine Krone auf dem Kopf?«
»Siehst du das?« sagte Johannes Wanderer. »Nein, Aron Mendel ist heute kein König. Er war es vielleicht einmal. Aber die Krone, die du an ihm siehst, trägt er darum, weil er seine Bürde schleppt für die kleine Rahel. Es ist das Königtum der Last, die wir tragen für andere.«
»Müssen wir das tun, Onkel Johannes?«
»Man muß es freiwillig tun, Veronika. Wir müssen es versuchen, einander die Bürde tragen zu helfen, Menschen, Tieren und allem, was lebt. Das ist der Weg zum Licht.«
4. Marseillaise
Im Haus der Schatten waren die Mauern dick und die Fenster eng, und die letzten Sonnenstrahlen verschwanden früh. Der graue Schleier der Abenddämmerung lag über Veronikas Spielzimmer und breitete sich über alle Gegenstände, so daß sich die Umrisse verwischten und es aussah, als stünden undeutliche Gebilde zwischen dem, was einem am Tage klar und bekannt war. In der tiefen Fensternische saß Johannes Wanderer und las beim letzten Licht, das sich darin verfing, Veronika kauerte auf dem Boden und schmückte ihre Puppen mit den seidenen Bändern aus Aron Mendels Kasten. Mutzeputz lag neben ihr auf einem weichen Kissen, und Magister Mützchen hüpfte auf seinen dünnen Beinen im Zimmer umher und machte sonderbare Bewegungen, als hasche er Schatten.
»Onkel Johannes«, fragte Veronika, »du weißt es doch, wer die graue Frau ist, nicht wahr?«
»Ja, Veronika«, sagte Johannes Wanderer, »aber daran mußt du jetzt nicht denken. Du kannst ihr nicht helfen.«
»Ich täte es gerne«, meinte Veronika, »sie war sehr nett zu mir. Nur ihr Bilderbuch hat mir nicht gefallen. Wird sie noch lange hierbleiben und ihr Bilderbuch besehen?«
»Sie wartet, bis es hell wird in der Kirche von Halmar«, sagte Johannes Wanderer.
»Ist es da dunkel?« fragte Veronika.
»Es ist nicht so hell dort, wie es sein sollte«, sagte Johannes Wanderer. »Für die graue Frau aber muß es dort hell werden, sonst findet sie nicht über die Schwelle, über die sie gehen muß. Sie könnte es gewiß auch so, und ich habe mich bemüht, ihr zu helfen, aber siehst du, sie denkt nun einmal an die Kirche zu Halmar, wie sie vor langer Zeit war, als sie selbst noch darin saß. So wartet sie darauf, daß es dort hell wird, und in dieser Helligkeit glaubt sie den Weg zu finden, der sie hinausführt in die andere Welt.«
»Kann man denn die Kirche nicht hell machen, Onkel Johannes?«
»Ich kann es nicht, Veronika, aber es wird wohl einmal geschehen. Die Menschen gehen verschiedene Wege, und es kommt nur darauf an, daß ein Licht ihnen leuchtet.«
Veronika besann sich.
»Onkel Johannes«, sagte sie, »meinst du die drei Lichter auf dem Leuchter, die der Engel mir einmal gezeigt hat?«
»Ja, Veronika, aber jedes Licht hat seine Zeit und hat seinen Sinn. Man muß auf sie achten, daß sie einmal im goldenen Licht aufgehen, das in der Mitte brennt. Das sind keine ganz leichten Fragen, und heute abend ist es schon besser, du spielst mit deinen Puppen und guckst zu, was Magister Mützchen macht.«
»Nicht wahr, du siehst Magister Mützchen auch? Das ist hübsch von dir, Onkel Johannes«, rief Veronika begeistert, »ich habe ihn so gerne, und es ist
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