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Die dreißig tolldreisten Geschichten - 1 (German Edition)

Die dreißig tolldreisten Geschichten - 1 (German Edition)

Titel: Die dreißig tolldreisten Geschichten - 1 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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zu werden, wie ein Dieb verdient gehängt zu werden. Ein feenhafter Fuß war's, ein wollüstiger Fuß, ein Fuß, über den ein Erzengel gestrauchelt wäre, ein verhängnisvoller Fuß, ein herausfordernder Fuß, ein Fuß, in dem der Teufel stak, so weiß und unschuldig er aussah, ein Fuß, der dazu aufforderte, zwei neue, ganz gleiche zu machen, um ein so schönes und vollkommenes Werk Gottes nicht aussterben zu lassen. René hätte am liebsten den unglückseligen oder vielmehr ganz glückseligen Fuß aller seiner Hüllen entkleidet. Von diesem wonnigen Fuß gingen seine trunkenen Augen, darinnen alles Feuer seiner ersten Jugend flammte, hinauf nach dem schlafenden Antlitz seiner Frau und Herrin, er lauschte auf ihren Schlummer, er trank ihren süßen Atem. Und so hin und zurück. Er konnte sich nicht entscheiden, was süßer zu küssen wäre, die frischen, feuchtroten Lippen der Seneschallin oder dieser vermaledeite, vielmehr gebenedeite Fuß. Er entschied sich dennoch endlich, und aus ehrfürchtiger Angst, vielleicht auch aus übergroßer Liebe wählte er den Fuß und küßte ihn, küßte ihn hastig wie ein Jungferlein, das gern möchte und noch nicht wagt. Dann griff er nach seinem Stundenbuch, und während das Rot seiner Wangen noch röter wurde, schrie er wie ein Blinder vor der Kirchentür:
    »Janua coeli, du Pforte des Himmels.«
    Aber kein Ora pro nobis antwortete ...
    Blancheflor erwachte nicht; sie rechnete darauf, daß der Page vom Fuß bis zum Knie hinaufstiege und so weiter die Leiter. Sie war darum sehr enttäuscht, daß die Litanei ohne weiteren Fall und Unfall zu Ende ging und René, dem sein Glück schon zu groß schien für einen einzigen Tag, auf den Zehen aus dem Saal schlich, sich reicher dünkend von dem kühn geraubten Kuß als ein Dieb, der den Opferstock erbrochen hat.
    Die Seneschallin blieb allein zurück. Sie dachte in ihrer Seele, wie lange wohl dieser Page brauchen werde, um vom Präludium zum Introitus zu gelangen. Sie faßte den Entschluß, am nächsten Tag den Fuß noch ein wenig höher zu stellen, um auf diese Weise ein kleines weißes Zipfelchen von jener Schönheit hervorblicken zu lassen, von der man bei uns zu Haus sagt, daß ihr die Luft nicht schadet, weil sie trotzdem immer frisch und geschlacht bleibt. Wie der Page die Nacht zubrachte, könnt ihr euch denken. Er schlief auf seiner Begierde wie auf einem glühenden Rost, und mit einem erhitzten Gehirn voll Bildern und Phantasien erwartete er mit brennender Ungeduld die Stunde des verliebten Brevierbetens. Er wurde gerufen, und die seltsamliche Litanei mit ›Du elfenbeinerner Turm‹, ›Du Arche Noä‹, ›Du göttliches Gefäß‹ begann von neuem. Blancheflor verfehlte nicht, einzuschlafen; und René, unterdessen kühner geworden, tastete mit zitternder Hand über das hochgestellte Bein, er wagte sich so weit vor, um sich zu überzeugen, daß das Knie glatt und rund und etwas anders weich war wie Seide; aber so gebieterisch richtete sich seine Angst auf und stellte sich seinem verwegenen Wunsch in den Weg, daß er nur ganz flüchtige Devotionen und Liebkosungen wagte, kaum einen hingehauchten Kuß, worauf er sich sofort wieder in die Haltung des frommen Beters warf, als ob nichts geschehen wäre. Die Seneschallin, deren sensitiver Seele und intelligentem Körper nichts entging und die sich mit aller Gewalt zurückhielt, um sich auch nicht um ein Härlein zu rühren, verzweifelte fast.
    »Was ist denn, René«, lispelte sie, »ich schlafe ja.«
    Als der Page diese Worte hörte, von denen er glaubte, daß sie ein schwerer Vorwurf seien, ergriff er, das Buch und alles zurücklassend, mit Entsetzen, die Flucht. Da fügte die Seneschallin der berühmten Litanei eine neue Strophe hinzu:
    »O allerheiligste Jungfrau«, seufzte sie, »eine wie schwere Sache ist doch das Kinderkriegen.«
    Beim Essen mußte der Page seinem Herrn und seiner Herrin aufwarten. Der kalte Schweiß stand ihm auf der Stirne. Aber wie groß war seine Überraschung, als ihm Blancheflor statt bitterer Worte süße Blicke gab, verliebte Blicke, so verliebt, als Frauenblicke nur sein können, und voll geheimnisvoller Allmacht; denn sie verwandelten mit einem Schlag das schüchterne und ängstliche Kind in einen mutigen Mann.
    Als darum der gute Herr Bruyn an diesem Abend sich etwas länger, als er sonst zu tun pflegte, in seiner Seneschallerei zu schaffen machte, suchte René die schöne junge Herrin, die wieder schlief, und ließ über sie einen Traum kommen,

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