Die dreißig tolldreisten Geschichten - 1 (German Edition)
Maillé zu tausend Kühnheiten, die ihr geringfügig und ungefährlich dünkten und doch das Platonische ihrer Liebe einigermaßen milderten. So verfiel sie allmählich auf all die verliebten Teufeleien, die von den Damen des Hofs seit dem Tod des Königs Franz erfunden worden waren, weil sie alle das pestilenzialische Übel fürchteten und doch von der Liebe nicht lassen mochten. Diesem grausamen Spiel konnte der Ritter in seiner Rolle sich nicht leicht versagen. Und also wiederholte sich jeden Abend die nämliche süße Tortur; unweigerlich heftete sie ihren Gast an ihre Röcke, sie hielt seine Hand, sie küßte ihn mit ihren Blicken, sie näherte ihre Wange seiner Wange; und während solcher tugendhaften Annäherungen, in denen sich der Ritter gefangen fühlte wie der Teufel im Weihwasserkessel, sprach sie von ihrer großen Liebe, die ohne Grenzen sei, geradeso unendlich und ohne Grenzen wie die Welt unerhörter Wünsche. All das Feuer, das die Damen sonst in materieller Liebe aufflammen lassen, während die Nacht kein anderes Licht hat als ihre Augen, in Marie Maillé verwandelte es sich in mystische Ausschweifungen des Gehirns, in Schwelgereien des Herzens und Verzückungen der Seele. So geschah es ganz natürlich, daß sie mit der Seligkeit zweier Engel, die sich körperlos vereinigen, immer von neuem zusammen jene süßen Strophen und Antistrophen anstimmten, die die Liebenden jener Zeit zum Preis der Liebe zu singen pflegten und die der Abt von Thelème gewissenhaft vor dem Vergessen gerettet hat, indem er sie Paragraph für Paragraph in die Mauern seiner Abtei eingraben ließ, als welche, nach dem Zeugnis des hochgelahrten Magisters Alcofribas, im Lande Chinon gelegen war, allwo ich sie in lateinischer Sprache vorgefunden und zum Nutzen aller guten Christen übertragen habe.
»Oh«, sagte Marie Maille, »du bist meine Kraft und mein Leben, mein Glück, mein einziger Schatz.«
»Und Ihr«, antwortete er, »Ihr seid eine Perle, ein Engel.«
»Du, mein Seraphim.«
»Ihr, meine Seele.«
»Du, mein Gott.«
»Ihr seid mein Morgen- und mein Abendstern, meine Ehre, meine Schönheit, Ihr seid mir die ganze Welt.«
»Du bist mein großer, mein göttlicher Meister.«
»Ihr seid mein Ruhm, mein Glaube, meine Religion.«
»Du bist mein edler, mein schöner, mein tapferer, mein vornehmer, mein treuer Ritter, mein Verteidiger, mein König, meine Liebe.«
»Ihr seid meine Fee, Ihr seid die Blume meiner Tage, der Traum meiner Nächte.«
»Du bist mein Gedanke in jedem Augenblick.«
»Ihr seid die Freude meiner Augen.«
»Du bist die Stimme meiner Seele.«
»Ihr seid das Licht des Tags.«
»Du bist der Schein in meinen Nächten.«
»Ihr seid die Geliebteste unter den Frauen.« »Du bist der Angebetetste der Männer.«
»Ihr seid mein Blut, mein besseres Selbst.«
»Du bist mein Herz, meine höchste Zierde.«
»Ihr seid meine Heilige, meine einzige Seligkeit.«
»Ich lasse dir die Palme der Liebe; so groß auch die meinige sei, du liebst mich doch noch mehr, denn du bist der Herr.«
»Nein, Euer ist die Palme, meine Göttin, meine Jungfrau Maria.«
»Nein, ich bin deine Magd, deine Sklavin, du kannst mich in ein Nichts verwandeln.«
»Nein, nein, ich bin Euer Knecht, Euer treuer Page, Ihr könnt mich wegblasen wie einen Hauch Luft, hinschreiten könnt Ihr über mich wie über einen Teppich. Mein Herz ist Euer Thron.«
»Nein, Freund, dein Wort hat Gewalt über mich.«
»Euer Blick verbrennt mich.«
»Ich sehe nur durch dich.«
»Ich fühle nur durch Euch.«
»Oh, so komm, lege deine Hand auf mein Herz, allein deine Hand, und alles Feuer meines Blutes wird in das deinige überfließen, ich werde erbleichen.«
Ihre heißen Blicke entflammten sich noch mehr an diesen Reden und Widerreden. Sicher war der gute Ritter der Mitschuldige an dem Glück, das Marie Maillé durchbebte, wenn sie seine Hand auf ihrem Herzen fühlte. Und da bei dieser Art Verkehr immer die ganze Kraft seiner Seele in Spannung blieb, seine Wünsche gestachelt wurden ohne Erfüllung und all sein Denken schmolz und sich auflöste, wurde er schwach bis zur Ohnmacht. Beider Augen weinten heiße Tränen, und die Liebe wurde ihnen zu einem verzehrenden Feuer. Aber dabei blieb es. Und in der Tat hatte Lavallière nur versprochen, ihren Körper heilig und heil dem Freund zurückzugeben; er hatte nichts versprochen von ihrem Herzen. Als aber Maillé endlich seine Rückkehr meldete, war es die höchste Zeit; denn welche Tugend
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