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Die dreißig tolldreisten Geschichten - 2 (German Edition)

Die dreißig tolldreisten Geschichten - 2 (German Edition)

Titel: Die dreißig tolldreisten Geschichten - 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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adligen Geschlechter, die eine wilde Plünderung für den andern Tag befürchteten, eine Versammlung ab und erklärten ihre Zustimmung zu den Beschlüssen des Kapitels. Zugleich wurde mit Stadtsoldaten, Bogenschützen, Rittern und Bürgern eine improvisierte Stadtmiliz zusammengebracht und alles niedergestochen und niedergeschlagen, was sich an Straßenräubern, Buschkleppern, Landstreichern und Vagabunden, von dem Gerücht des Aufruhrs angelockt, in der Stadt zusammengezogen und die Masse der Mißvergnügten vermehrt hatte.
    Der edle Herr Harduin von Mayen, ein ehrwürdiger Greis, nahm sich die losen Junker ad coram, die die Mohrin unter ihren Schutz genommen, und stellte ihnen mit ruhigen Worten vor, ob sie denn um der schönen Augen einer Frau willen ganz Touraine mit Feuer und Schwert verheeren wollten? Ob sie sich denn getrauten, wenn sie wirklich zu ihrem Ziele gelangten, des räudigen Gesindels wieder Herr zu werden, das sie herbeigerufen hätten, und nicht vielmehr befürchteten, daß der unbotmäßige wilde Haufe, nachdem er die Schlösser ihrer Feinde zerstört, sich an die ihrer Rädelsführer machen würde? Überdies gab er ihnen zu bedenken, daß sie wenig Hoffnung hätten, sich der Kirchenregenten von Tours zu bemächtigen, da nun der erste Ansturm niedergeschlagen, die Stadt gesäubert und genügend Zeit gewonnen sei, die Hilfe des Königs anzurufen.
    Auf solche und tausend ähnliche Reden der Weisheit antworteten die Junker, daß es dem Kapitelja ein leichtes wäre, das schöne Weib bei Nacht heimlich entkommen zu lassen, womit dem Aufruhr aller Grund und Vorwand genommen sei. Der päpstliche Legat aber, jener obengenannte De Censoris, widerstrebte solchen humanen Vorschlägen, er erklärte, daß die Kirche in Sachen der Religion nicht um ein Haarbreit nachgeben dürfe, und also mußte das beklagenswerte Frauenzimmer für alle bezahlen, denn es wurde beschlossen, daß keine Untersuchung wegen des Aufruhrs eingeleitet werden sollte.
    Nun hatte das erzbischöfliche Kapitel freie Hand und konnte die Hinrichtung des armen Weibs zum Vollzug bringen. Auf zwölf Meilen im Umkreis erschienen die Menschen zu dieser Zeremonie, und an dem Tage, wo die Hexe, nachdem der göttlichen Gerechtigkeit genuggetan, der Gewalt des weltlichen Richters überliefert werden sollte, um auf einem Scheiterhaufen öffentlich verbrannt zu werden, würde niemand mehr eine Wohnung in der Stadt Tours gefunden haben, und wenn er auch einen ganzen Goldgulden dafür geboten hätte, wenn er sogar ein mächtiger Abt gewesen wäre. Schon die Nacht vorher schlief eine große Menge auf freiem Feld, unter Zeltdächern und Strohhütten. Die Lebensmittel reichten bei weitem nicht hin, und viele, die mit vollem Magen gekommen waren, kehrten mit leerem zurück und hatten doch nichts gesehen als den Schein des Feuers aus der Ferne. Den meisten Gewinn aber von der ganzen Sache hatten wieder die Wegelagerer und Schnapphähne längs der Heerstraße. Das unglückselige Weib war quasi tot. Ihre Haare waren gebleicht, sie war nur noch Haut und Knochen, und ihre Ketten wogen schwerer als sie selber. Wenn sie überreichlich die Lust der Welt genossen hatte in ihrem Leben, an diesem Tage mußte sie sie teuer bezahlen.
    Diejenigen, die sie sahen, als sie vorübergeführt wurde, erzählten, wie so herzzerreißend sie weinte und jammerte, daß sie ihren erbittertsten Feinden hätte Mitleid einflößen müssen. In der Kirche mußte man ihr einen Knebel in den Mund stecken, den sie zerbiß wie einen Strohhalm. Dann band sie der Henker an einen Pfahl, da sie sich nicht aufrecht halten konnte und alle Augenblicke aus übergroßer Schwäche zur Erde fiel. Plötzlich aber erhielt ihr Peiniger einen Faustschlag ins Gesicht. Das arme schwache Weib hatte, so erzählte man sich, die Stricke, mit denen sie gebunden war, wie morschen Zunder zerrissen und von sich abgeschüttelt. Ehe man sich's versah, war sie entschlüpft. In Erinnerung an ihr früheres Handwerk war sie mit unglaublicher Geschicklichkeit an den Säulen und Steinbildern der Kathedrale bis zu den obersten Galerien emporgeklettert und an den zackigen Kapitellen und Friesen wie ein Vogel hingehuscht. Schon war sie auf dem Dache angelangt, als ein Soldat ihr einen Pfeil nachsandte, der ihr den Fußknöchel zertrümmerte. Aber trotz unsäglicher Schmerzen lief das arme Weib wie besessen, mit blutenden Wunden und zerschmettertem Fuß noch immer das Dach entlang, so entsetzlich war ihre Angst vor den Flammen des

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