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Die dreißig tolldreisten Geschichten - 2 (German Edition)

Die dreißig tolldreisten Geschichten - 2 (German Edition)

Titel: Die dreißig tolldreisten Geschichten - 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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mehr unter den Lebenden weilen. Bete alsdann für meine Seele und bedenke, daß ich dieses mein Testament für dich niedergeschrieben habe zu einer Zeit, wo mein Gemüt und mein Geist noch unter dem frischen Eindruck der ungeheuern menschlichen Ungerechtigkeit stand, wovon hier die Rede ist und woraus du dir eine Lehre und ein Beispiel nehmen mögest, wie du weise und in Ruhe und Sicherheit mit den Deinigen leben kannst.
    In meinen Jünglingsjahren hatte ich den Ehrgeiz, mich dem geistlichen Stand widmen zu wollen, um mich darin zu den höchsten Würden aufzuschwingen, denn kein andrer Beruf dünkte mich so ehrenvoll wie dieser. Zu diesem Zweck und Ende lernte ich lesen und schreiben und gelangte darauf mit viel Mühe und Fleiß dahin, mich in die geistliche Zunft aufnehmen zu lassen. Aber da ich keine hohen Beschützer hatte, auch sonst mir keinen Rat wußte, wie ich zu meinem Ziel gelangen könnte, faßte ich den Entschluß, mich dem geistlichen Kapitel von St-Martin als Schreiber, Rubrikator und Registrator anzubieten. Da nämlich dieses Kapitel die angesehensten und reichsten Persönlichkeiten der Christenheit zu Mitgliedern zählt und sogar der König von Frankreich ihm als einfacher Chorherr angehört, hoffte ich, mit der Zeit in einem dieser hohen Herren infolge geleisteter Dienste einen Protektor zu finden, durch dessen Macht und Einfluß es mir gelingen könnte, in den höheren geistlichen Stand aufzurücken, mit der Mitra gekrönt zu werden so gut wie irgendein anderer und in einem, ich weiß nicht mehr wo, gerade vakant gewordenen Erzbistum Unterschlupf zu finden.
    Aber ich hatte mir mein Ziel zu hoch gesteckt, und meine ehrgeizigen Pläne wurden mir bald genug durch Gott und die Ereignisse in ihrer Eitelkeit offenbar. An meiner Statt wurde Herr Jehan de Villedomer, der inzwischen Kardinal geworden ist, erwählt, und ich wurde zurückgesetzt. Als Pflaster auf die Wunde bekam ich durch die Güte des vortrefflichen Herrn Hieronymus Cornill, geistlichen Ober-Strafrichters von St-Maurice, die Stelle eines Protokollisten des erzbischöflichen Kapitels von Tours, welchem Amt ich mit Ehren vorstund, denn ich wußte die Feder mit großem Geschick zu führen und war dafür bekannt.
    In demselben Jahre, wo ich mein Amt antrat, begann der große Hexenprozeß der Rue Chaude, von dem heute noch die alten Leute ihren Kindern und Enkeln erzählen, so wie damals in ganz Frankreich von nichts anderm gesprochen wurde. Bei dieser Gelegenheit wurde ich von meinem guten Meister aufgefordert und angestellt, die Akten des Prozesses zu führen und alle Protokolle und Schreibereien dabei zu übernehmen, weil er der Meinung war, daß ich für diese Unterstützung, die ich dem Kapitel durch meine Schreiberdienste leistete, auf irgendeine höhere Würde für meine Person rechnen und meinen Ehrgeiz hierdurch befriedigen könne.
    Nämlich der genannte hochwürdige Herr Hieronymus Cornill, damals sich den Achtzigern nähernd und ein Mann von großem Verstand, Gerechtigkeitssinn und Wohlwollen, witterte von Anfang an in dieser Sache viel Böswilligkeit. Trotzdem er keinerlei Vorliebe für die Weiber hegte, die ihren Leib zur Lust hingeben, und in seinem Leben nur mit heiligen und hochehrbaren Frauen verkehrt hatte (welcher großen Keuschheit er seine Wahl zum obersten geistlichen Richter verdankte), hatte er trotz aller Zeugenaussagen und der eigenen Geständnisse jener Angeklagten allmählich die sichere Überzeugung gewonnen, daß dieses arme Wesen zwar die Grenzen ihres Handwerks überschritten habe, aber von dem Verdachte der Hexerei ganz freizusprechen sei; daß ihr großer Reichtum ihren Feinden und andern Leuten, die ich dir hier vorsichtshalber nicht näher bezeichnen will, in die Nase gestochen (man sprach davon, daß sie damit die ganze Grafschaft von Touraine hätte kaufen können) und daß der Neid ihrer Mitschwestern, der ehrbaren Frauen von Tours, über das arme Ding tausend Lügen und Verleumdungen ausgesprengt, die wie ein Lauffeuer sich verbreiteten und auf die geschworen wurde wie auf das Evangelium.
    Indem genannter Herr Hieronymus Cornill also nicht zweifelte, daß dieses Mädchen von keinem andern Teufel als dem Liebesteufel besessen war, hatte er sie im geheimen aufgefordert, sich gegen ihre Kläger auf das Gottesurteil zu berufen, da er mit Sicherheit voraussetzte, wie es ihm auch von den betreffenden in Aussicht gestellt worden, daß mehrere tapfere, angesehene und sehr reiche Edelleute Gut und Blut daran wagen

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