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Die dreißig tolldreisten Geschichten - 3 (German Edition)

Die dreißig tolldreisten Geschichten - 3 (German Edition)

Titel: Die dreißig tolldreisten Geschichten - 3 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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angetan mit Lumpen wie eine Vogelscheuche, mit nackten Füßen am Sonntag, während du doch Schätze an dir trägst, wie sie so reich und herrlich in der ganzen Abtei nicht zu finden sind, und ich denke mir, daß die aus der Stadt dir schön nachstellen und dich mit Anträgen quälen und verfolgen werden.«
    »Aber nein, edler Herr, ich gehöre der Abtei«, sprach sie, indem sie dem Goldschmied einen ledernen Riemen an ihrem linken Arm zeigte. Es war ein ähnlicher Riemen, wie ihn die Kühe auf der Weide um den Hals tragen, nur daß keine Glocke dranhing. Bei ihren Worten richtete sie einen so traurigen Blick auf den Meister, daß er diesem tief in die Seele drang. Denn oft liegt in Blicken eine magische Kraft.
    »Was soll das heißen?« erwiderte er, im höchsten Grade neugierig geworden, und griff nach dem ledernen Armband, wo auf einem Blechschild das Wappen der Abtei deutlich eingraviert war; doch in Wahrheit interessierte ihn das sehr wenig.
    »Edler Herr«, erklärte das Mädchen, »ich bin die Tochter eines Leibeigenen, und das will heißen, daß, wer mich heiratet, leibeigen wird wie ich selber. Wäre er auch der reichste Bürger von Paris, würde er doch mit Leib und Gut der Abtei verfallen. Hätte er Kinder von mir, ohne mich zu ehelichen, würden die Kinder leibeigen. Aus diesem Grunde läßt man mich in Ruhe, und wie die Tiere des Felds bin ich von allen verlassen. Wenn ich auch weniger häßlich wäre, als ich es bin, der verliebteste Verliebte würde beim Anblick meines Armbands vor mir fliehen wie vor dem schwarzen Tod, und so werde ich eben, was mir leid tut, eines Tages vom Herrn Abt mit dem ersten besten leibeigenen Mann kopuliert werden.«
    Sie zog bei diesen Worten den Strick an, um ihre Kuh hinter sich herzuziehen.
    »Wie alt bist du?« fragte der Goldschmied.
    »Ich weiß es nicht, edler Herr, aber unser Herr Abt hat es aufgeschrieben.«
    Diese große Armut rührte das Herz des Bürgers, in dessen Leben es auch schon schmal zugegangen war. Er hielt also mit dem Mädchen gleichen Schritt, und sie näherten sich zusammen dem Fluß in größtem Stillschweigen. Der Mann betrachtete die schöne Stirne, die runden geröteten Arme, die stolzen Hüften, die nackten Füße, die, obwohl über und über, mit Staub bedeckt, schön waren wie die der Jungfrau Maria. Ein Gesichtchen hatte das Mädchen wie eine Heilige. Und wahrhaftig, sie war das würdige Ebenbild der heiligen Genoveva, der Patronin von Paris und der armen Mädchen auf dem Lande. Aber der Schlingel von Goldschmied brachte es fertig, sich die knospenhaften Formen vorzustellen, die das Mädchen unter einem groben häßlichen Tuch mit schamhafter Sorgfalt versteckt hielt und die das Werden einer so süßen Blüte der Schönheit ankündigten, ganz vollkommen in ihrer Art wie alles, was den Mönchen gehört. So deutlich sah seine Phantasie die süßen Früchte, daß dem Armen, der doch nicht daran rühren durfte, das Wasser im Mund danach zusammenlief wie einem Schüler, wenn es ein heißer Tag ist, nach einem rotbackigen Apfel. Immer höher stieg ihm das Herz zur Kehle hinauf.
    »Du hast eine schöne Kuh«, sagte er.
    »Möchtet Ihr vielleicht ein wenig Milch haben?« antwortete sie. »Es ist heiß in diesen Tagen des Monats Mai, und Ihr habt einen weiten Weg nach der Stadt.«
    In der Tat, die Sonne brannte nur so vom blauen wolkenlosen Himmel, und alles strahlte von Jugend, das Laub, die Luft, die Jungfrauen, sogar der Goldschmied; alles glühte, blühte und duftete. Das kindliche Anerbieten des armen Mädchens, mit einer ganz eignen unbezahlbaren Anmut ausgesprochen und von einer unvergleichlich rührenden Gebärde begleitet, bewegte erst recht das Herz des Goldschmieds, nicht anders, als wenn ihm in der Gestalt der leibeigenen Kreatur eine leibhaftige Prinzessin begegnet wäre.
    »Ach nein, mein Liebchen, ich habe keinen Durst nach Milch, aber nach dir, und ich wünschte mir nichts mehr, als dich aus der Knechtschaft erlösen zu können.«
    »Nein, nein, das ist nicht möglich, ich müßte sterben, denn ich bin Eigentum der Abtei. In diesem Stand leben wir seit alter Zeit und immer so fort von Vater zu Sohn, von Mutter zu Tochter, und wie meine armen Vorfahren sollen auch meine Kinder in diesem Stande bleiben, daß der Abt nicht seine Hand von uns abziehe.«
    »Wie«, sprach der Tourainer, »deine schönen Augen haben keinen vermocht, dich freizukaufen, wie ich mich freigekauft habe vom König?«
    »Ach, das wäre viel zu teuer«, sagte sie.

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