Die Drenai-Saga 2 - Der Schattenprinz
Geist des Bronzegrafen, Blutsbruder des großen Joacim. Daher ziemt es sich, daß er Joacim an diesem heiligen Ort wieder begegnet.
Friede eurer Seele, Brüder. Öffnet eure Herzen der Musik der Leere. Laßt Raffir mit der Dunkelheit sprechen …«
Steiger schauderte, als die riesige Versammlung die Köpfe senkte. Raffir lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Seine Augen waren weit geöffnet; dann sah man nur noch das Weiße der Augäpfel. Steiger wurde übel vor Angst.
»Ich rufe dich, Geisterfreund!« rief Raffir. Seine Stimme war hoch und zittrig. »Komm zu uns an diesen heiligen Ort. Laß uns teilhaben an deiner Weisheit.«
Die Kerzen im Tempel flackerten plötzlich, als wäre ein Windstoß durch das Gebäude gefahren.
»Komm zu uns, Geisterfreund! Führe uns!«
Wieder tanzten die Kerzenflammen – und diesmal verloschen viele. Steiger leckte sich die Lippen; Raffir war kein Scharlatan.
»Wer ruft Joacim Sathuli?« hallte eine tiefe, wohlklingende Stimme durch den Saal. Steiger fuhr auf seinem Stuhl zusammen, denn die Stimme kam aus der faltigen Kehle Raffirs.
»Blut von deinem Blute ruft dich, großer Joacim«, sagte der Fürst. »Hier ist ein Mann, der behauptet, dein Freund zu sein.«
»Dann laß ihn sprechen«, sagte der Geist, »denn ich habe deine jammernde Stimme zu oft gehört.«
»Sprich!« befahl der Fürst, an Steiger gewandt. »Du hast den Befehl gehört.«
»Du hast mir gar nichts zu befehlen, du Hund!« fuhr Steiger ihn an. »Ich bin Rek, der Bronzegraf, und ich habe zu einer Zeit gelebt, als die Sathuli noch Männer waren. Joacim war ein Mann – und mein Bruder. Sag mir, Joacim, wie gefallen dir diese Söhne deiner Söhne?«
»Rek? Ich kann dich nicht sehen. Bist du das?«
»Ich bin es, Bruder. Hier unter diesen Schatten deiner selbst. Warum kannst du nicht bei mir sein?«
»Ich weiß nicht … so viel Zeit. Rek! Unsere erste Begegnung. Erinnerst du dich an deine Worte?«
»Ja. ›Und was ist dein Leben wert, Joacim?‹ Und du hast geantwortet: ›Ein zerbrochenes Schwert‹.«
»Ja. Ja, ich erinnere mich. Und die letzten Worte? Jene, die mich nach Dros Delnoch brachten?«
»Ich ritt dem Tod in der Festung entgegen und sagte: ›Vor mir liegt nichts als Krieg und Feinde. Ich möchte gern denken, daß ich wenigstens einen Freund hinter mir lasse.‹ Ich bat dich, meine Hand als Freund zu nehmen.«
»Rek, du bist es! Mein Bruder! Wie kommt es, daß du noch einmal das Leben in Fleisch und Blut genießt?«
»Die Welt hat sich nicht geändert, Joacim. Das Böse steigt noch immer an die Oberfläche wie Schaum in der Brühe. Ich kämpfe einen Krieg ohne Verbündete und mit nur wenigen Freunden. Ich kam zu den Sathuli, wie schon in der Vergangenheit.«
»Was brauchst du, mein Bruder?«
»Ich brauche Männer.«
»Die Sathuli werden dir nicht folgen. Ich liebe dich, Rek, denn du warst ein großer Mann. Aber es wäre ungehörig, wenn ein Drenai den erwählten Stamm führen würde. Du mußt verzweifelt sein, auch nur darum zu bitten. Aber in deiner großen Not biete ich dir die Cheiam zu deiner Verfügung an. Oh, Rek, mein Bruder, ich wünschte, ich könnte wieder an deiner Seite sein, den Säbel in der Faust! Ich sehe noch die Nadir vor mir, wie sie über die letzte Mauer klettern, höre noch ihre haßerfüllten Schreie. Wir waren Männer, nicht wahr?«
»Wir waren Männer«, antwortete Steiger. »Selbst mit der Wunde in deiner Seite warst du noch voller Kraft.«
»Mit meinem Volk steht es nicht zum besten, Rek. Schafe, angeführt von Ziegen. Nutze die Cheiam gut. Und möge der Herr aller Dinge dich segnen.«
Steiger schluckte schwer. »Hat er dich gesegnet, mein Freund?«
»Ich habe, was ich verdiene. Lebwohl, mein Bruder.«
Eine grenzenlose Traurigkeit überfiel Steiger, und er sank auf die Knie. Tränen strömten ihm über die Wangen. Er versuchte vergeblich, sein Schluchzen zu unterdrücken, und Pagan lief zu ihm und half ihm auf die Füße.
»Soviel Kummer in seiner Stimme«, sagte Steiger. »Bring mich fort von hier.«
»Wartet!« befahl der Fürst. »Die Zeremonie ist noch nicht vorüber.«
Doch Pagan beachtete ihn nicht und führte den weinenden Steiger aus dem Tempel. Nicht ein Sathuli versperrte ihnen den Weg, als sie in ihre Zimmer zurückkehrten. Dort half Pagan Steiger auf das mit weißem Satin bezogene Bett und holte ihm Wasser aus einem steinernen Krug. Es war kühl und süß.
»Hast du je solche Trauer gehört?« fragte Steiger.
»Nein«, gestand Pagan. »Aber
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