Die Drenai-Saga 2 - Der Schattenprinz
dir gar nichts. Wir haben dich nicht gebeten, uns zu befreien.«
»Hör mir zu, du Kind von einem Mann! Ich bin von den Totenbergen zurückgekehrt, durch die Nebel der Jahrhunderte. Sieh mir in die Augen. Siehst du dort die Schrecken der Hölle? Ich habe dort mit Joacim gespeist, dem größten aller Sathuli-Fürsten. Du wirst mich in die Berge führen und euren Anführer entscheiden lassen. Bei Joacims Seele, soviel bist du mir schuldig!«
»Es ist leicht, von dem großen Joacim zu sprechen«, sagte der Mann unbehaglich, »er ist ja seit mehr als hundert Jahren tot.«
»Er ist nicht tot«, widersprach Steiger. »Sein Geist lebt, und ihm ist speiübel von der Feigheit der Sathuli. Er bat mich, euch die Gelegenheit zu geben, eure Ehre wiederherzustellen – aber es liegt bei euch.«
»Wer bist du?«
»In euren Grabkammern wirst du mein Bild finden, an der Seite Joacims. Sieh mir ins Gesicht, Mann, und sag mir, wer ich bin.«
Der Sathuli leckte sich die Lippen. Er war unsicher und voller abergläubischer Furcht.
»Du bist der Bronzegraf?«
»Ich bin Regnak, der Bronzegraf. Und jetzt bring mich in die Berge!«
Sie ritten die Nacht hindurch, hielten sich nach links in die Delnoch-Berge und erklommen zahlreiche Pässe, die ins Herz des Gebirges führten. Viermal wurden sie von Sathuli-Spähern aufgehalten, doch stets erlaubte man ihnen, weiterzuziehen. Schließlich, als die Sonne schon fast ihren Mittagsstand erreicht hatte, gelangten sie in die Innere Stadt – tausend weiße steinerne Gebäude, die den Kessel eines verborgenen Tales füllten. Nur ein Bauwerk hatte mehr als ein Stockwerk: der Palast der Sathuli.
Steiger war noch nie dort gewesen, wie überhaupt nur wenige Drenai. Kinder liefen herbei, um ihnen zuzusehen, und als sie sich dem Palast näherten, schlossen sich ihnen etwa fünfzig weißgekleidete Krieger an, die mit Krummsäbeln bewaffnet waren und sich beiderseits von ihnen aufreihten. Am Palasttor erwartete sie ein Mann mit verschränkten Armen. Er war groß gewachsen und breitschultrig, sein Gesicht stolz.
Steiger hielt vor dem Tor und wartete.
Der Mann ging auf ihn zu, die dunkelbraunen Augen fest auf Steigers Gesicht gerichtet.
»Du behauptest, ein toter Mann zu sein?« fragte der Sathuli. Steiger wartete, ohne etwas zu erwidern. »Wenn das so ist, dann hast du bestimmt nichts dagegen, wenn ich dich mit meinem Schwert durchbohre?«
»Ich kann sterben wie jeder andere«, sagte Steiger. »Ich bin schon einmal gestorben. Aber du wirst mich nicht töten, also laß uns mit diesen Spielchen aufhören. Befolge die Gesetze der Gastfreundschaft und biete uns Erfrischungen an.«
»Du spielst deine Rolle gut, Bronzegraf. Steigt ab und folgt mir.«
Er führte sie in den Westflügel des Palastes und in ein riesiges Marmorbad, in dem sie von zwei Dienern umsorgt wurden, die Parfüm ins Wasser spritzten. Belder sagte nichts.
»Wir können uns hier nicht allzu lange aufhalten, Graf«, sagte Pagan. »Wieviel Zeit willst du ihnen geben?«
»Das habe ich noch nicht entschieden.«
Pagan ließ seine massige Gestalt ins warme Wasser sinken und tauchte unter. Steiger rief einen der Diener herbei und bat um Seife. Der Mann zog sich unter Verbeugungen zurück und kehrte mit einem Kristallgefäß wieder. Steiger schüttete sich den Inhalt über den Kopf und wusch sich die Haare; dann bat er um Rasiermesser und Spiegel und rasierte sich. Er war müde, fühlte sich nach dem Bad aber wieder einigermaßen menschlich. Als er die Marmorstufen emporstieg, kam ein Diener mit einem Bademantel, den er Steiger um die Schultern legte. Dann führte er ihn in ein Schlafgemach, wo Steiger seine Kleider, frisch ausgebürstet, vorfand. Er nahm ein sauberes Hemd aus der Satteltasche, zog sich rasch an, kämmte sich und legte sorgfältig sein Stirnband an. Einem Impuls folgend, nahm er das Stirnband wieder ab und suchte in seinen Taschen nach dem Silberreif mit dem Opal. Er setzte ihn auf, und ein anderer Diener brachte ihm einen Spiegel. Er dankte dem Mann, wobei er mit Genugtuung die Ehrfurcht in dessen Augen sah.
Er nahm den Spiegel und betrachtete sich.
Konnte er als Rek, der Krieger-Graf, durchgehen?
Pagan hatte ihn auf die Idee gebracht, als er sagte, daß die Menschen immer zu glauben bereit wären, andere wären stärker, schneller und fähiger als sie selbst. Es war alles nur eine Frage der Selbstdarstellung. Er hatte gesagt, Steiger könnte ein Fürst, ein Meuchelmörder oder ein General sein.
Warum dann nicht auch
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