Die Drenai-Saga 3 - Waylander
Verwundete und Sterbende. Und dann bei Nacht …«
»Ich weiß. Die Bruderschaft schleicht durch die Dunkelheit.«
»Wir werden sie nicht mehr lange aufhalten können. Bald werden wir sterben.«
»Wie viele sind es?«
»Wer weiß?« antwortete Astila müde. »Sie haben Verstärkung bekommen. Letzte Nacht hätten wir beinahe Baynha und Epway verloren. Und heute nacht …?«
»Ruh dich etwas aus. Du mutest dir zuviel zu.«
»Das ist der Preis der Schuld, Evris.«
»Es gibt bestimmt nichts, dessen du dich schuldig fühlen müßtest?«
Astila legte seine Hände auf die Schultern des Arztes. »Alles ist relativ, mein Freund. Man lehrt uns, daß Leben heilig ist.
Alles
Leben. Ich bin einmal aus dem Bett ausgestiegen und habe einen Käfer zertreten – ich fühlte mich irgendwie besudelt. Wie, glaubst du wohl, werde ich mich heute abend fühlen, wenn unten in der Stadt scharenweise Menschen sterben? Was glaubst du, wie wir uns alle fühlen? Für uns gibt es hier keine Freude, und Mangel an Freude bedeutet Verzweiflung.«
Sechs Männer knieten vor dem Schamanen, sechs Krieger mit strahlenden Augen und grimmigen Gesichtern: Bodai, der vor zwei Jahren seinen rechten Arm verloren hatte; Askadi, dessen Rückgrat nach dem Sturz von einer Klippe verkrümmt war; Nenta, einst ein guter Schwertkämpfer, jetzt verkrüppelt von Arthritis; Belikai der Blinde; Nontung, der Leprakranke aus den Höhlen von Mithega; Lenlai der Besessene, dessen Anfälle häufiger wurden und der sich in einem schrecklichen Krampf die Zunge abgebissen hatte.
Kesa Khan, angetan mit einem Gewand aus menschlichen Skalpen, gab jedem Mann einen Schluck Lyrrd, gewürzt mit den Kräutern der Berge. Er beobachtete ihre Augen, als sie tranken, sah, wie sich die Pupillen erweiterten und Verständnislosigkeit in ihnen dämmerte.
»Meine Kinder«, sagte er langsam, »ihr seid die Erwählten. Ihr, deren Leben beraubt wurde, werdet wieder stark sein. Stark und geschmeidig. Kraft wird in euren Adern fließen. Und nachdem ihr die Stärke gekostet habt, werdet ihr sterben, und eure Seelen werden auf einem Meer von Freude in die Leere schwimmen. Denn dann werdet ihr dem Blut von eurem Blut gedient und ein Nadirschicksal erfüllt haben.« Sie saßen reglos, die Augen fest auf ihn gerichtet. Sie zeigten keinerlei Regung – kein Blinzeln, scheinbar nicht einmal ein Atmen. Zufrieden klatschte Kesa Khan leicht in die Hände, und sechs Akolythen traten in die Höhle. Sie führten sechs graue Waldwölfe herein, denen man Maulkörbe aufgesetzt hatte.
Kesa Khan ging nacheinander auf jeden der Wölfe zu, nahm ihnen zuerst die Leine, dann den Maulkorb ab. Er legte seine knochigen Finger über ihre Augen, und jeder setzte sich gehorsam dorthin, wo er sie hinführte, bis zum Schluß alle sechs vor den verkrüppelten Kriegern kauerten. Die Akolythen zogen sich zurück.
Kesa Khan schloß die Augen, gestattete seinem Geist, durch die Höhle zu strömen, hinaus in die Dunkelheit der Nadirnacht. Er erspürte den Puls des Landes und stimmte ihn mit seinem eigenen ab. Er fühlte die gewaltige elementare Kraft der Berge in seinen Geist dringen, anschwellend im Versuch, die zerbrechliche Menschenhülle zu sprengen, die ihn hielt. Der Schamane öffnete die Augen und hielt die Woge von Adrenalin an, die durch seine Adern strömte.
»In dieser Höhle hat sich der Mörder ausgeruht. Sein Geruch haftet an den Felsen. Eure letzte Erinnerung muß diesem Mann gelten: diesem hochgewachsenen, rundäugigen Drenai, der versucht, das Schicksal eurer Rasse zu durchkreuzen. Brennt sein Bild in eure Köpfe, so wie die Wölfe den glühenden Haß dieses Geruchs in ihren Nüstern haben: Waylander der Schlächter. Der Seelenräuber in den Schatten. Er ist ein starker Mann, dieser Mann – aber nicht so stark, wie ihr sein werdet. Er ist schnell und tödlich – aber nicht so schnell wie ihr, meine Kinder.
Sein Fleisch wird süß sein, sein Blut wie der Wein der Berge. Kein anderes Fleisch kann euch nähren. Jede andere Nahrung wird euch vergiften. Er allein ist euer Leben.«
Kesa Khan holte tief Luft und stand auf. Er ging an den kauernden Wölfen vorbei und tätschelte jedem sanft den Hals. Bei seiner Berührung strafften sie sich und knurrten, richteten die Augen auf den schweigenden Mann.
Plötzlich stieß der Schamane einen Schrei aus, und die Wölfe machten einen Satz. Ihre großen Fangzähne schlossen sich um die Kehlen der Männer vor ihnen. Die Männer rührten sich nicht, als die Zähne
Weitere Kostenlose Bücher