Die Drenai-Saga 5 - Im Reich des Wolfes
gefaltet. Einige alte Fingerknochen, gelblich und porös, lagen vor ihm. Morak ließ sich auf der anderen Seite des Feuers nieder. Was für eine abscheuliche Sitte, dachte er, die Knochen seines Vaters in einem Beutel mit sich herumzutragen. Barbaren! Wer würde sie je verstehen? Belash beendete seine Gebete und steckte die Knochen wieder in den Beutel an seiner Seite.
»Hatte dein Vater dir was Interessantes mitzuteilen?« fragte Morak. Seine grünen Augen leuchteten vor Vergnügen.
Belash schüttelte den Kopf. »Ich spreche nicht mit meinem Vater«, sagte er. »Er ist tot. Ich spreche mit den Mondbergen.«
»Ah, ja, die Berge. Wissen sie, wo Waylander sich aufhält?«
»Sie wissen nur, wo jeder einzelne Nadirkrieger ruht.«
»Da haben sie aber Glück«, erwiderte Morak.
»Es gibt Dinge, über die du nicht spotten solltest«, warnte Belash ihn. »Die Berge beherbergen die Seelen aller Nadir, der vergangenen und der zukünftigen. Und durch sie werde ich, wenn ich tapfer bin, den Mann finden, der meinen Vater tötete. Ich werde die Knochen meines Vaters im Grab dieses Mannes beisetzen, so daß sie auf seiner Brust ruhen. Und dann wird er meinem Vater für alle Zeit dienen.«
»Interessante Vorstellung«, meinte Morak mit unbeteiligter Stimme.
»Ihr
kol-isha
glaubt, ihr wißt alles. Ihr glaubt, die Welt wurde zu eurem Vergnügen erschaffen, aber ihr versteht das Land nicht. Du sitzt hier und atmest die Luft und fühlst die kalte Erde unter dir, und du merkst nichts. Und warum? Weil ihr euer Leben in Städten aus Stein lebt, Mauern baut, um den Geist des Landes fernzuhalten. Ihr seht nichts. Ihr hört nichts. Ihr fühlt nichts.«
Ich kann das Furunkel sehen, das sich auf deinem Hals bildet, du unwissender Wilder, dachte Morak. Und ich kann den Gestank aus deinen Achselhöhlen riechen. Laut sagte er: »Und was ist der Geist dieses Landes?«
»Er ist weiblich«, antwortete Belash. »Wie eine Mutter. Sie nährt jene, die ihr antworten, und gibt ihnen Stärke und Stolz. Wie dem alten Mann, den du getötet hast.«
»Und sie spricht zu dir?«
»Nein, denn ich bin der Feind dieses Landes. Aber sie läßt mich wissen, daß sie da ist und mich beobachtet. Und sie haßt mich nicht. Aber sie haßt dich.«
»Warum sollte das stimmen?« fragte Morak, der sich plötzlich unbehaglich fühlte. »Frauen haben mich immer gemocht.«
»Sie liest in deiner Seele, Morak. Und sie weiß, daß sie voll ist von finsterem Licht.«
»Aberglaube!« fauchte Morak. »Es gibt keine solche Frau. Es gibt keine Macht auf der Welt außer der, die in zehntausend scharfen Schwertern ruht. Sieh dir Karnak an. Er befahl die Ermordung des großen Helden Egel, und jetzt herrscht er an dessen Stelle, verehrt, sogar geliebt. Er ist die Macht in der Welt der Drenai. Liebt diese Frau ihn?«
Beash zuckte die Achseln. »Karnak ist ein großer Mann – trotz all seiner Fehler – und er kämpft für das Land. Vielleicht liebt sie ihn wirklich. Und kein Mensch weiß mit Sicherheit, ob Karnak Egels Ermordung befahl.«
Ich weiß es, dachte Morak und erinnerte sich an den Augenblick, als er vor dem Bett des großen Mannes stand und ihm den Dolch ins rechte Auge stach. O ja, ich weiß es.
Es war kurz vor Mitternacht, als Waylander zurückkam. Angel saß am Feuer, Miriel schlief im Hinterzimmer. Waylander legte den Riegel in die Eisenhalterungen der Tür, dann schnallte er den Köcher von seinem Gürtel und legte ihn neben der Ebenholzarmbrust auf den Tisch. Angel blickte auf. Das einzige Licht im Zimmer kam von dem flackernden Feuer. In seinem Schein sah Waylander wie eine Zaubergestalt aus, umgeben von tanzenden Dämonenschatten.
Schweigend nahm Waylander das schwarzlederne Wehrgehänge mit den drei Wurfmessern ab; dann band er die beiden Scheiden von den Unterarmen los und legte die Waffen auf den Tisch. Aus verborgenen Scheiden in den kniehohen Mokassins kamen noch zwei weitere Messer zum Vorschein. Schließlich ging er zum Feuer und setzte sich dem ehemaligen Gladiator gegenüber.
Angel lehnte sich zurück. Seine hellen Augen beobachteten den Krieger und bemerkten seine Anspannung.
»Ich habe gesehen, daß du mit Miriel gekämpft hast«, sagte Waylander.
»Nicht lange.«
»Nein. Wie oft hast du sie niedergeschlagen?«
»Zweimal.«
Waylander nickte. »Die Spuren waren nicht einfach zu lesen. Deine Fußabdrücke waren tiefer als ihre, aber sie überlagerten sich.«
»Woher weißt du, daß ich sie zu Boden geschlagen habe?«
»Der Boden war
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