Die Drenai-Saga 5 - Im Reich des Wolfes
Nadir hatten Attentäter ihn aufgespürt, und er hatte sie getötet. Danyal hatte ihn gefragt, wie er mit einer solchen Leichtigkeit töten könne.
Er entfernte sich ein paar Schritte von ihr, bückte sich und hob einen kleinen Stein auf. »Fang ihn«, sagte er und warf ihr den Kieselstein zu. Ihre Hand schoß vor und fing den Stein geschickt auf. »Das war leicht, oder?«
»Ja«, gab sie zu.
»Wenn ich jetzt Krylla und Miriel hier hätte, und zwei Männer hielten Messer an ihre Kehlen, und man würde dir sagen: ›Wenn du den Stein verfehlst, müssen sie sterben.‹ Wäre er dann immer noch leicht zu fangen? Angst macht die einfachsten Handlungen komplex und schwierig. Ich bin, was ich bin, weil der Stein – wie auch die Folgen sein mögen – immer ein Stein bleibt.«
»Kannst du mir das beibringen?«
»Ich habe nicht die Zeit.«
Sie hatte auf ihn eingeredet, und schließlich sagte er: »Was fürchtest du in diesem Moment am meisten?«
»Ich fürchte, dich zu verlieren.«
Er ging, um einen zweiten Stein aufzuheben. Wolken verdeckten teilweise den Mond, und Danyal bemühte sich, seine Hand zu erkennen. »Ich werde ihn dir zuwerfen«, sagte er. »Wenn du ihn fängst, bleibst du, und ich werde dich unterrichten. Wenn du ihn verfehlst, kehrst du nach Skarta zurück.«
»Nein, das ist nicht fair! Das Licht ist zu schlecht.«
»Das Leben ist nicht fair, Danyal. Wenn du nicht einverstanden bist, reite ich allein weiter.«
»Dann bin ich einverstanden.«
Ohne ein weiteres Wort schleuderte er ihr den Stein entgegen – ein schlechter Wurf, zu schnell und zu weit links von ihr. Ihre Hand zuckte vor, und der Stein prallte von ihrer Handfläche ab. Doch als er fiel, schlossen sich blitzschnell ihre Finger darum und umklammerten ihn wie eine Trophäe.
Sie lachte.
»Warum freust du dich so?« fragte er.
»Ich habe gewonnen!«
»Nein. Sag mir, was du getan hast.«
»Ich habe meine Angst überwunden.«
»Nein.«
»Was dann? Ich verstehe dich nicht.«
»Das mußt du aber, wenn du lernen willst.«
Plötzlich lächelte sie. »Ich verstehe das Geheimnis, Waylander.«
»Dann sag mir, was du getan hast.«
»Ich habe einen Stein bei Mondlicht gefangen.«
Waylander seufzte. Der Raum war kalt, aber seine Erinnerungen waren warm. Draußen heulte ein Wolf den Mond an, ein einsamer Laut, ursprünglich und melancholisch. Und Waylander schlief ein.
»Du bewegst dich mit der Anmut einer kranken Kuh«, wütete Angel, als Miriel sich auf die Knie hob und sich mühte, Luft in ihre müden Lungen zu pumpen. Verärgert sprang sie auf die Füße. Ihre Schwertspitze zielte auf Angels Bauch. Er wich geschickt aus, parierte den Stoß und schlug ihr mit der flachen linken Hand hinters Ohr. Miriel stürzte mit dem Gesicht voran zu Boden.
»Nein, nein, nein!« sagte Angel. »Du mußt lernen, deine Wut zu beherrschen. Und jetzt ruh dich etwas aus.« Er ging zum Brunnen, wand den kupferbeschlagenen Eimer hoch und spritzte sich Wasser ins Gesicht.
Miriel stand erschöpft auf. Ihre Stimmung war gedrückt. Monatelang hatte sie geglaubt, ihre Fähigkeiten im Umgang mit dem Schwert wären gut – besser als die der meisten Männer, hatte ihr Vater gesagt. Jetzt mußte sie der unangenehmen Wahrheit ins Auge sehen. Eine kranke Kuh, also wirklich! Langsam ging sie zu Angel, der auf dem Brunnenrand saß. Er war jetzt bis zur Hüfte nackt, und sie konnte die zahlreichen Narben auf seiner muskulösen Brust und dem Bauch sehen, auf den kräftigen Unterarmen und den breiten Schultern.
»Du hast viele Wunden davongetragen«, sagte sie.
»Das zeigt, wie viele gute Schwertkämpfer es gibt«, antwortete er mürrisch.
»Warum bist du wütend?«
Er schwieg einen Augenblick. Dann holte er tief Luft. »In der Stadt gibt es viele Schreiber, Verwaltungsangestellte, Organisatoren. Ohne sie würde Drenan nicht funktionieren. Es sind geschätzte Männer. Aber hier in den Bergen würden sie verhungern, inmitten von Wild und eßbaren Wurzeln. Verstehst du? Wie groß die Fähigkeiten eines Menschen sind, hängt von der Umgebung ab oder den Herausforderungen, denen er sich stellen muß. Im Vergleich mit den meisten Männern würdest du als hoch begabt gelten. Du bist schnell, und du hast Mut. Aber die Männer, die deinen Vater jagen, sind Krieger. Belash würde dich binnen zweier, dreier Herzschläge töten. Morak würde nicht viel länger brauchen. Senta und Courail haben ihre Fähigkeiten beide in der Arena erworben.«
»Kann ich genauso gut
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