Die Drenai-Saga 6 - Druss-Die Legende
Shabag hatte ihren Anführer zu sich gerufen, der nicht mit einem Schwert, sondern mit einer Schriftrolle bewaffnet war. Es war eine alte Schrift, verfaßt von Pashtar Sen, und der Bursche hatte sie laut vorgelesen. Was für eine schöne Stimme er gehabt hatte! Es war ein wundervoller Text, voller Gedanken über Ehre, Vaterlandsliebe und Brüderlichkeit. Doch als Pashtar Sen ihn verfaßt hatte, wußten die Leibeigenen noch, wo ihr Platz war, und die Bauern lebten in Ehrfurcht vor den Höhergestellten. Die Rührseligkeit des Textes hatte sich inzwischen verschlissen.
Shabag hatte den Jungen zu Ende lesen lassen; denn alles andere wäre schlechtes Benehmen gewesen und hätte einem Mann von Adel schlecht zu Gesicht gestanden. Dann hatte er ihm den Bauch aufgeschlitzt wie einem Fisch. Oh, wie die tapferen Studenten da gerannt waren! Nur, daß sie nirgends hinkonnten. Sie waren zu Hunderten gestorben, wie Maden, die aus einer Eiterbeule gespült wurden. Das Reich von Ventria verfiel unter dem alten Kaiser, und die einzige Möglichkeit, seine Größe wiederherzustellen, bot der Krieg. Ja, dachte Shabag, die Naashaniter werden glauben, sie hätten gesiegt, und ich werde tatsächlich ein Vasallenkönig sein. Aber nicht für lange. Nicht für lange …
»Verzeihung, Herr«, sagte ein Offizier, und Shabag wandte sich dem Mann zu.
»Ja?«
»Ein Schiff hat Capalis verlassen. Es segelt die Küste entlang nach Norden. Es sind ziemlich viele Männer an Bord.«
Shabag fluchte. »Gorben ist geflüchtet«, erklärte er. »Er hat unsere Riesen gesehen und erkannt, daß er nicht siegen kann.« Er fühlte einen Stich der Enttäuschung; denn er hatte sich voller Erwartung auf den morgigen Tag gefreut. Er richtete den Blick auf die fernen Mauern und rechnete beinahe damit, den Herold der Kapitulation dort zu sehen. »Ich bin in meinem Zelt. Wenn sie verhandeln wollen, weckt mich.«
»Jawohl, Herr.«
Er schritt durch das Lager. Sein Zorn wuchs. Jetzt würde ein Hurensohn von Pirat Gorben fangen, ihn vielleicht sogar töten. Shabag warf einen Blick zum Himmel, der allmählich dunkel wurde. »Ich würde meine Seele geben, um Gorben in die Hände zu bekommen!« sagte er.
Doch der Schlaf wollte sich nicht einstellen, und Shabag wünschte, er hätte das datianische Sklavenmädchen mitgebracht. Eine junge Unschuld und äußerst entgegenkommend. Sie hätte ihm Schlaf und süße Träume gebracht.
Er stand auf und zündete zwei Laternen an. Gorbens Flucht – falls es ihm gelang, den Piraten zu entgehen – würde den Krieg verlängern. Aber nur um eine paar Monate, überlegte er. Capalis würde morgen in seiner Hand sein, und danach würde Ectanis fallen. Gorben wäre gezwungen, sich in die Berge zurückzuziehen und sich der Gnade der wilden Stämme auszuliefern, die dort lebten. Es würde Zeit kosten, ihn aufzuspüren, aber nicht allzuviel. Und vielleicht brachte die Jagd in den düsteren Wintermonaten ja sogar Spaß.
Shabag dachte an seinen Palast in Resha und beschloß, nach der Kapitulation von Capalis nach Hause zu reisen, um sich auszuruhen. Er dachte an die Bequemlichkeiten von Resha, an die Theater, die Arena und die Gärten. Jetzt mußten die Kirschbäume am See in Blüte stehen, ihre Blütenblätter in das kristallklare Wasser fallen lassen und die Luft mit ihrem süßen Duft erfüllen.
War es erst einen Monat her, daß er mit Darishan am See gesessen hatte, wobei die Sonne auf seinem geflochtenen Silberhaar glänzte?
»Warum trägst du diese Handschuhe, Vetter?« hatte Darishan gefragt und einen Stein ins Wasser geworfen. Ein großer goldener Fisch zuckte bei der plötzlichen Störung mit der Schwanzflosse; dann verschwand er in der Tiefe.
»Ich mag das Gefühl«, antwortete Shabag gereizt. »Aber ich bin nicht hier, um Fragen der Bekleidung zu diskutieren.«
Darishan lachte leise. »Weshalb so ernst? Wir stehen kurz vor dem Sieg?«
»Das hast du schon vor einem halben Jahr gesagt«, betonte Shabag.
»Und ich hatte damals recht. Es ist wie eine Löwenjagd, Vetter. Solange er im dichten Unterholz ist, hat der Löwe eine Chance. Aber sobald du ihn im offenen Gelände hast, und er will in die Berge, ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis seine Kräfte nachlassen. Gorben verliert Kraft und Gold.«
»Er hat noch immer drei Armeen.«
»Er hat mit sieben angefangen. Zwei davon stehen jetzt unter meinem Kommando, eine unter deinem, und eine ist aufgerieben. Komm schon, Vetter, warum so düster?«
Shabag zuckte die
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