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Die dritte Ebene

Die dritte Ebene

Titel: Die dritte Ebene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Hefner
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größere Schwester und strahlte über alle Backen.
    »Sei still, Sarah!«, ermahnte Peggy ihre Tochter. »Es ist nicht schlimm, wenn man Angst hat. Du weißt, die Angst beschützt uns auch davor, dumme Dinge zu tun.« Peggy wandte sich ihrer Mutter zu. »Also, ich wäre jetzt reif für ein Frühstück«, sagte sie.
    Dorothee Shane wandte ihren Blick nicht von der roten Scheibe ab, die sich nun deutlich vom Wasser des Ozeans abgesetzt hatte und in der Luft schwebte. »Lass dich durch mich nicht davon abhalten. Ich würde gern noch ein wenig hier stehen und mir den Sonnenaufgang ansehen. Bei uns in Baltimore ist die Sonne nur zu sehen, wenn sie schon ziemlich hoch steht. Außerdem habe ich den Eindruck, sie ist hier viel größer als bei uns zu Hause.«
    Peggy lächelte. »Ich dachte schon, du hättest Heimweh.«
    »Ach was«, widersprach ihre Mutter. »Nach dem gestrigen Geschaukel und der trüben Luft bin ich froh, dass man endlich wieder den blauen Himmel sehen kann. Ich bekomme davon überhaupt nicht genug. Für mich hat die Reise jetzt erst begonnen.«
    Peggy lächelte zufrieden. »Das sollten wir jedes Jahr einmal zusammen machen. Vielleicht hat Suzannah im nächsten Jahr auch Zeit dafür.«
    »Suzannah hat nie Zeit«, entgegnete Dorothee. »Du weißt, dass sie seit Vaters Tod nicht mehr allzu viel Familiensinn hat. Manchmal glaube ich sogar, sie ist ein wenig eigenbrötlerisch geworden. Wenn sie nur endlich mal einen Mann finden würde, der zu ihr passt.«
    »Sie liebt nun mal ihren Beruf.«
    »Ja, und sie sieht auch schon aus wie eine dieser weißen, mageren Laborratten.«
    »Mutter! Du tust ihr unrecht. Weißt du, es ist für sie nicht einfach, wenn sie uns besucht. Ich glaube, sie liebt uns, aber sie hätte selbst gern eine Familie und Kinder.«
    »Dann sollte sie endlich damit anfangen.«
    Peggy verzog das Gesicht. Sie wusste, dass sie ihre Mutter in Bezug auf Suzannahs Lebensweise nicht umstimmen konnte. Im Grunde genommen hatte sie ja recht. Manchmal glaubte selbst Peggy, dass es Suzannah irgendwie gefiel, sich in ihr Schneckenhaus zurückzuziehen.
    »Also dann, ich gehe mit den Kindern zum Frühstücken. Ich halte dir einen Platz frei.«
    Dorothee wandte kurz den Kopf von der Sonne ab und lächelte ihrer Tochter zu.
    Tief sog sie die salzige Luft ein. Zu Beginn der Reise war sie skeptisch gewesen, ob sie überhaupt das Angebot annehmen und mit Peggy die Kreuzfahrt machen sollte. Früher, als John noch lebte, waren sie jedes Jahr zwei- bis dreimal verreist. Im Sommer nach Florida oder Kalifornien, manchmal auch nach Europa. Wien, Mailand, Berlin und London. All diese Städte hatte sie mit John besucht, der so plötzlich verstorben war. Vier Jahre waren bereits vergangen, doch der Verlust schmerzte noch immer so, als wäre es gestern gewesen.
    Ach ja, wenn nur John noch leben würde. Dann wären sie und Suzannah einander vielleicht noch ein wenig näher, und es wäre nie zu diesem unsäglichen Streit gekommen.
    Sie hob den Kopf und schaute erneut durch ihre Sonnenbrille auf den großen roten Ball, der mittlerweile eine leicht gelbliche Färbung angenommen hatte. Neben ihr und auf den verschiedenen Decks gab es einige Menschen, die es ihr gleichtaten. Von mittschiffs wehte der mäßige Wind leise Entspannungsmusik zu ihr herüber. Offenbar hatte das morgendliche Animationsprogramm bereits begonnen. Sie wollte gerade gehen, als sich plötzlich lautes Geschrei erhob und die Sphärenklänge vom Pool überlagerte. Zunächst waren es Schreie der grenzenlosen Verwunderung, doch jetzt gingen sie in Panik über. Dorothee wurde nervös. Sie kamen von der anderen Seite des Schiffes.
    Dorothee löste sich von der Reling und umrundete den Treppenaufgang. Was war nur geschehen?
    »… Welle … riesig … weg hier!«
    Nur Fragmente drangen an ihr Ohr. Sie stieg den Niedergang hinauf, bis sie auf die andere Seite schauen konnte. Überall rannten Menschen mit panisch verzerrten Gesichtern auf die Schotts und Türen zu. Ein lauter Warnton drang aus den Lautsprechern. Sie spürte, dass sich das Schiff nach Backbord neigte. Dann erfassten ihre Augen die ganze Katastrophe. Auf der Westseite rollte eine weiße Wand auf die Caribbean Queen zu. Dorothee wollte schreien, doch noch ehe ein Laut über ihre Lippen kam, erzitterte das Schiff. Ein Schwall aus Gischt und Wasser ergoss sich über das Deck. Das Schiff wankte. Metall knirschte, Glas splitterte. Dorothee verlor den Halt und stürzte, doch sie schlug nicht auf dem blanken

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