Die dritte Ebene
Kirche war trotz der Kühle eine hohe Luftfeuchtigkeit zu spüren. Was konnte man in einer Stadt, die mitten ins Wasser gebaut war, anderes erwarten?, dachte Brian. Er suchte nach Nahtstellen, nach eindeutigen Hinweisen auf Restaurationen, doch mit bloßem Auge war nichts zu erkennen. Angesichts des mürrischen Aufpassers im hinteren Teil der Kirche fragte er sich, wie Leon es anstellen konnte, unbeobachtet eine Materialanalyse der Tränenspur durchzuführen.
Gedankenverloren wandte er sich um und ging zum Ausgang, wo ihn Gina erwartete. In den Händen hielt sie Hefte und Broschüren über die Kirche San Zulian. Brian warf einen kurzen Blick zurück, dann verließen sie das Gotteshaus, und die Hitze des verklingenden Tages fing sie wieder ein.
»Hast du etwas gespürt?«, fragte Brian.
Gina schüttelte den Kopf. »Nichts Außergewöhnliches. Kirchen sind oft von einer besonderen Aura umgeben, aber darüber hinaus konnte ich nichts fühlen.«
Brian schaute auf die Broschüren in ihren Händen. »Was hast du da mitgenommen?«
»Eine kleine Auswahl aus dem klerikalen Supermarkt.« Gina hielt die Hefte hoch. »Sechzehn Euro habe ich dafür berappt. Aber es ist ja für einen guten Zweck.«
»So, welchen denn?«, fragte Brian.
»Die Renovierung der Kirche.«
Als sie wieder zur Edy-Bar zurückkehrten, war Leon verschwunden. Brian schaute sich um, doch er konnte ihn nirgends entdecken. Gina bemerkte Brians suchenden Blick.
»Er wird schon wieder auftauchen«, sagte sie. »Du kennst ihn doch. Vielleicht ist ihm eingefallen, wie er an eine Materialprobe kommen könnte. Manchmal folgt er einfach einer Eingebung …«
»… und hinterher stecken wir alle wieder mal im Schlamassel«, fiel ihr Brian ins Wort.
»Er kann ja nicht weit sein.«
Die Glocken der nahen Markuskirche ertönten. Auch die anderen Kirchenglocken fielen in das abendliche Konzert ein. Brian sah auf seine Uhr. Es war genau 18 Uhr.
»Jetzt bin ich mal gespannt«, sagte Brian und ließ sich zusammen mit Gina an einem freien Tisch nieder. Sie bestellten sich einen Cappuccino. Brians Blick heftete sich an das Kirchenportal der Chiesa San Zulian. Die letzten Touristen verließen die Kirche und traten hinaus ins Sonnenlicht. Kurz darauf wurde die Tür geschlossen. Ganze zwanzig Minuten verstrichen, ehe der grauhaarige alte Mann ins Freie trat. Sorgfältig verschloss er mit einem übergroßen altertümlichen Schlüssel das Kirchenportal. Schließlich verschwand der Alte in einer Seitengasse. Brian erhob sich. Einen Augenblick lang war er versucht, dem Mann zu folgen, doch dann entdeckte er Leon, der wohl auf die gleiche Idee gekommen war und hinter dem grauhaarigen Alten in der kleinen Seitengasse verschwand.
»Vielleicht hast du recht«, sagte er, während er sich wieder setzte. »Möglichweise sollte ich Leon einfach mal von der Leine lassen. Wir werden sehen, was dabei herauskommt.«
Gina blickte ihn fragend an.
»Ich für meinen Teil werde morgen mit Padre Francesco reden«, erklärte Brian. »Und du schaust, wie wir an die Kinder herankommen.«
Südlich der Kokosinsel, Pazifik
Die SSN-28 Clayton war ein U-Boot der Ohio-Klasse und kreuzte schon seit ein paar Tagen in der südlichen Pazifikregion vor der Küste Mexikos, als der Funkspruch der Kommandozentrale am frühen Abend aufgefangen worden war. Commander Loison hatte mit voller Kraft Kurs auf die Kokosinsel genommen. Ein Auftrag von höchster Priorität. Jeder an Bord wusste, dass die Besatzung der Portland verloren war, wenn es ihnen nicht rechtzeitig gelänge, das Schiff ausfindig zu machen. Seit der letzten Positionsmeldung des brennenden Schiffs, etwa vierzig Seemeilen südlich der Insel, waren mehr als zwölf Stunden vergangen. An der Wasseroberfläche tobte ein gigantischer Wirbelsturm, und ein manövrierunfähiger Kreuzer hatte gegen das aufgepeitschte Meer und die heftigen Winde eines Hurrikans keine Chance. Noch bestand Hoffnung, noch waren die Ausläufer des Sturms nicht in dem Gebiet angekommen, das der Navigator als mögliche Position der Portland auf der Seekarte bestimmt hatte. Gemessen an der Zuggeschwindigkeit des Zyklons Dave und der augenblicklichen Zugrichtung, verblieben noch knapp dreißig Minuten, bis die Sturmfront den vermuteten Standort der Portland erreichte. Es würde auf alle Fälle eng werden.
Die Nerven der Männer waren zum Zerreißen gespannt. Alle Stationen waren besetzt, und die Blicke der Matrosen hatten sich auf die Monitore der Radar- und Sonaranlagen
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