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Die dritte Jungfrau

Die dritte Jungfrau

Titel: Die dritte Jungfrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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wissen nichts. Sie sind in der Nacht von Freitag zu Samstag an der Porte de la Chapelle ermordet worden. Für Mortier ist das zwangsläufig ein Hinweis auf Drogen. Für Mortier beschäftigen sich Schwarze übrigens nur mit Drogen, man fragt sich, ob sie überhaupt etwas anderes kennen vom Leben. Und dann ist da diese Spur eines Einstichs in der Armbeuge.«
    »Habe ich gesehen. Die Routineuntersuchungen haben nichts ergeben. Was erwartest du von mir?«
    »Daß du nachforschst und mir sagst, was in der Spritze war.«
    »Warum lehnst du die Möglichkeit mit den Drogen ab? Davon gibt’s doch reichlich an der Porte de la Chapelle.«
    »Die Mutter von dem großen Schwarzen schwört, ihr Sohn habe so etwas nicht angerührt. Er nahm nichts und dealte auch nicht. Die Mutter des großen Weißen weiß es nicht.«
    »Du glaubst immer noch, was alte Mamas sagen?«
    »Meine sagte immer, daß ich einen Kopf wie ein Sieb hätte und man den Wind hindurchpfeifen hören könnte. Sie hatte recht. Und ich sagte dir schon: Sie haben schmutzige Fingernägel, alle beide.«
    »Wie alle Notleidenden vom Flohmarkt.«
    Ariane sagte ›Notleidende‹ in jenem mitleidigen Ton der großen Gleichgültigen, für die das Elend eine Tatsache ist und kein Problem.
    »Das ist kein Dreck, Ariane, es ist Erde. Und diese Burschen hatten keinen Garten. Sie wohnten in heruntergekommenen Zimmern in Mietskasernen, ohne Licht und Heizung, wie sie die Stadt Notleidenden anbietet. Mit ihren alten Mamas.«
    Dr. Lagarde hatte ihren Blick auf die Wand gerichtet. Wenn Ariane eine Leiche betrachtete, verkleinerten sich ihre Augen in einer starren Stellung und schienen sich in die hochpräzisen Linsen eines Mikroskops zu verwandeln. Adamsberg war sich sicher, daß er, hätte er ihre Pupillen in diesem Augenblick genau angeschaut, zwei vollständige Abbilder der beiden Leichname darin gesehen hätte, den Weißen im linken, den Schwarzen im rechten Auge.
    »Eins wenigstens kann ich dir sagen, das dir weiterhelfen kann, Jean-Baptiste. Es war eine Frau, die sie umgebracht hat.«
    Adamsberg stellte seine Tasse ab; er zögerte, der Gerichtsmedizinerin zum zweitenmal in seinem Leben zu widersprechen.
    »Ariane, hast du gesehen, wie groß die beiden Männer waren?«
    »Was glaubst du denn, was ich mir im Leichenschauhaus anschaue? Meine Erinnerungen? Ich hab deine Jungs gesehen. Bullige Typen, die einen Schrank mit dem kleinen Finger anheben könnten. Trotzdem hat eine Frau sie umgebracht, alle beide.«
    »Erklär’s mir.«
    »Komm heute abend wieder. Ich muß zwei oder drei Dinge nachprüfen.«
    Ariane stand auf und zog ihren Kittel, den sie am Garderobenständer zurückgelassen hatte, über ihr Kostüm. In der Gegend des Leichenschauhauses mochten die Wirte es nicht, wenn man die Mediziner aufkreuzen sah. Die Kundschaft störte sich dran.
    »Ich kann nicht. Heute abend gehe ich ins Konzert.«
    »Dann komm nach deinem Konzert vorbei. Ich arbeite spätnachts, falls du dich erinnerst.«
    »Ich kann nicht, es ist in der Normandie.«
    »Soso«, meinte Ariane und stockte in ihrer Bewegung. »Was wird denn gegeben?«
    »Weiß ich nicht.«
    »Und du fährst bis in die Normandie, um ein Konzert zu hören, über das du nichts weißt? Oder fährst du einer Frau hinterher?«
    »Ich fahre ihr nicht hinterher, ich begleite sie höflichst.«
    »Soso. Dann komm halt morgen im Leichenschauhaus vorbei. Aber nicht am frühen Morgen. Morgens schlafe ich.«
    »Ich erinnere mich. Nicht vor elf Uhr.«
    »Nicht vor Mittag. Mit der Zeit wird alles ausgeprägter.«
    Ariane setzte sich noch einmal flüchtig auf die Stuhlkante zurück.
    »Eins würde ich dir gern noch sagen. Aber ich weiß nicht, ob ich Lust dazu habe.«
    Momente des Schweigens hatten Adamsberg nie in Verlegenheit gebracht, mochten sie noch so lang sein. Er wartete, ließ seine Gedanken zu dem abendlichen Konzert schweifen. Es vergingen fünf Minuten oder zehn, er wußte es nicht.
    »Sieben Monate später«, sagte Ariane plötzlich entschieden, »ist der Mörder bei uns aufgetaucht und hat ein vollständiges Geständnis abgelegt.«
    »Du meinst den Kerl aus Le Havre«, sagte Adamsberg und blickte die Gerichtsmedizinerin an.
    »Ja, den Mann mit den zwölf Ratten. Zehn Tage nach seinem Schuldbekenntnis hat er sich in seiner Zelle erhängt. Du hattest recht.«
    »Und das hat dir nicht gefallen.«
    »Nein, und meinen Vorgesetzten noch weniger. Meine Beförderung konnte ich vergessen, ich mußte fünf Jahre länger darauf warten.

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