Die dritte Jungfrau
Angeblich sollst du mir die Lösung auf einem Tablett serviert haben, und ich hatte angeblich nichts davon hören wollen.«
»Und du hast es mich auch nicht wissen lassen.«
»Ich wußte deinen Namen nicht mehr, ich hatte dich ausradiert, weit von mir gestoßen. Wie dein Glas.«
»Und du nimmst es mir immer noch übel.«
»Nein. Denn erst dank dem Geständnis des Mannes mit den Ratten habe ich angefangen, über die Dissoziation zu forschen. Hast du mein Buch nicht gelesen?«
»Flüchtig«, wich Adamsberg aus.
»Ich war’s, die den Begriff eingeführt hat: die dissoziierten Mörder.«
»Ja«, korrigierte Adamsberg sich, »man hat mir davon erzählt. Personen, die halbiert sind.«
Die Gerichtsmedizinerin verzog das Gesicht.
»Sagen wir eher Individuen, die sich aus zwei unverbundenen Teilen zusammensetzen, einem, der tötet, und einem anderen, der ein normales Leben führt, wobei die beiden Hälften nichts voneinander wissen, mehr oder weniger. Sind sehr selten. Beispielsweise diese Krankenschwester, die vor zwei Jahren in Asnières verhaftet wurde. Solche Mörder, gefährliche Wiederholungstäter, lassen sich nur äußerst schwer ausfindig machen. Denn sie sind unverdächtig, inklusive sich selbst, und schrecklich vorsichtig in ihrem Tun, so sehr fürchten sie, ihre andere Hälfte könnte sie entdecken.«
»Ich erinnere mich an diese Krankenschwester. Deiner Auffassung nach war sie also eine Dissoziierte?«
»Eine fast einwandfreie. Wäre sie nicht an ein Genie von Bulle geraten, hätte sie bis zu ihrem Tod weitergemetzelt, noch dazu ohne die geringste Ahnung. Zweiunddreißig Opfer in vierzig Jahren, ohne mit der Wimper zu zucken.«
»Dreiunddreißig«, berichtigte Adamsberg.
»Zweiunddreißig. Ich muß es wissen, schließlich habe ich stundenlang mit ihr gesprochen.«
»Dreiunddreißig, Ariane. Denn ich habe sie verhaftet.«
Die Gerichtsmedizinerin zögerte, dann lächelte sie.
»Wahrhaftig«, sagte sie.
»Und als der Mörder aus Le Havre die Ratten aufschlitzte, war er da der andere? War er Teil Nummer zwei, der tötende Teil?«
»Interessiert dich die Dissoziation?«
»Diese Krankenschwester beschäftigt mich, und der Mörder aus Le Havre ist ein bißchen meiner. Wie hieß er?«
»Hubert Sandrin.«
»Und als er sein Geständnis ablegte? War er da auch der andere?«
»Das ist unmöglich, Jean-Baptiste. Der andere zeigt sich niemals selbst an.«
»Aber Teil Nummer eins konnte doch auch nicht sprechen, wenn er von nichts wußte.«
»Genau das war die Frage. Die Dissoziation hat für einige Augenblicke aufgehört zu funktionieren, die Undurchlässigkeit zwischen den beiden Männern brach auf, wie ein Riß eine Wand spaltet. Durch diesen Spalt hat Hubert Nummer eins den anderen, Hubert Nummer zwei, gesehen, und das Grauen hat ihn gepackt.«
»So was kommt vor?«
»Fast nie. Aber die Dissoziation ist nur selten vollkommen. Es gibt immer undichte Stellen. Wirre Worte springen von einer Seite der Wand auf die andere. Der Mörder nimmt sie nicht wahr, aber der Analytiker kann sie bemerken. Und wenn dieser Sprung zu gewaltsam ist, kann es zu einem Zusammenbruch des Systems kommen, zu einem Persönlichkeitscrash. Genau das ist bei Hubert Sandrin passiert.«
»Und die Krankenschwester?«
»Ihre Wand hält. Sie weiß nicht, was sie getan hat.«
Adamsberg schien nachzudenken, strich sich mit dem Finger über die Wange.
»Das wundert mich«, sagte er leise. »Es schien mir, als wüßte sie, weshalb ich sie verhafte. Sie nahm alles ohne ein Wort hin.«
»Ein Teil von ihr, ja, was dir ihr Einverständnis erklärt. Aber sie erinnert sich in keiner Weise an ihre Taten.«
»Hast du erfahren, wie der Mörder aus Le Havre Hubert Nummer 2 entdeckt hat?«
Ariane lächelte offen, wobei sie ihre Asche auf den Boden fallen ließ.
»Deinetwegen und wegen deiner zwölf Ratten. Die Lokalpresse hatte deine Spinnereien seinerzeit veröffentlicht.«
»Ich entsinne mich.«
»Und Hubert Nummer zwei, der Mörder – nennen wir ihn Omega –, hatte die Zeitungsausschnitte aufgehoben, und zwar geschützt vor den Blicken von Hubert Nummer eins, dem gewöhnlichen Mann, nennen wir ihn Alpha.«
»Bis Alpha die Zeitungsausschnitte, die Omega versteckt hatte, entdeckte.«
»Genau.«
»Würdest du sagen, Omega wollte das?«
»Nein. Alpha ist einfach nur umgezogen. Die Artikel sind aus seinem Schrank gefallen. Und alles flog auf.«
»Ohne meine Ratten«, faßte Adamsberg leise zusammen, »hätte Sandrin sich nicht
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