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Die dritte Jungfrau

Die dritte Jungfrau

Titel: Die dritte Jungfrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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gestellt. Ohne ihn hättest du nicht über Dissoziation gearbeitet. Alle Psychiater und alle Bullen in Frankreich haben von deinen Studien gehört.«
    »Ja«, gab Ariane zu.
    »Du schuldest mir ein Bier.«
    »Gewiß.«
    »Auf den Seine-Quais.«
    »Wenn du willst.«
    »Und du übergibst die beiden Burschen natürlich nicht den Drogenfahndern.«
    »Die Leichen entscheiden, Jean-Baptiste, nicht du, nicht ich.«
    »Die Spritze, Ariane. Und die Erde. Achte auf diese Erde. Und sag mir, ob’s überhaupt welche ist.«
    Gemeinsam standen sie auf, als hätte Adamsbergs Satz das Signal zum Aufbruch gegeben. Auf der Straße dann verfiel der Kommissar in seinen gewohnten Promenadenschritt, und die Gerichtsmedizinerin versuchte, diesem allzu langsamen Rhythmus zu folgen, in Gedanken bereits bei den Autopsien, die auf sie warteten. Adamsberg Sorge konnte sie nicht verstehen.
    »Irgendwas stört dich an diesen Leichen, nicht wahr?«
    »Ja.«
    »Nicht nur wegen der Drogenfahnder?«
    »Nein. Es ist bloß …«
    Adamsberg stockte.
    »Ich geh dort lang, Ariane, ich sehe dich morgen.«
    »Bloß was?« hakte die Gerichtsmedizinerin nach.
    »Es wird dir bei deiner Analyse nicht helfen.«
    »Trotzdem?«
    »Es ist ein Schatten, Ariane, ein Schatten, der sich über sie beugt, oder über mich.«
    Ariane sah, wie Adamsberg mit wiegendem Schritt die Avenue hinunterging, eine Gestalt, die auf die Passanten nicht achtete. Sie erkannte diesen Gang wieder, noch dreiundzwanzig Jahre später. Diese sanfte Stimme, diese gemächlichen Gesten. Sie hatte ihm keine Beachtung geschenkt, als er jung war, sie hatte nichts geahnt, nichts verstanden. Wenn man noch einmal von vorn anfangen könnte, würde sie seiner Rattengeschichte besser zuhören. Sie steckte die Hände in die Taschen ihres Kittels und ging davon zu den zwei Leichen, die auf sie warteten, um in die Geschichte einzugehen. Es ist ein Schatten, der sich über sie beugt. Sie konnte diese Ungereimtheit heute gut verstehen.

6
    Lieutenant Veyrenc nutzte jene endlosen Stunden im Verschlag, um in großer Schrift ein Stück von Racine abzuschreiben, für seine Großmutter, die nicht mehr gut sah.
    Niemand hatte je die ausschließliche Leidenschaft verstanden, die seine Großmutter für diesen Autor und keinen anderen erklärt hatte, nachdem sie Kriegswaise geworden war. Man wußte, daß sie in ihrem von Nonnen geleiteten Mädchenpensionat sämtliche Werke Racines vor einem Brand gerettet hatte, mit Ausnahme des Bandes, der Phädra, Esther und Athalie enthielt. Und als seien ihr diese Werke durch göttlichen Beschluß zugesprochen worden, hatte die kleine Bäuerin sich abgemüht und sie elf Jahre lang Zeile für Zeile gelesen. Als sie das Kloster verließ, schenkte die Oberin sie ihr wie eine heilige Wegzehrung, und die Großmutter setzte ihre Lektüreschleife unermüdlich fort, ohne je zu variieren oder gar die Neugierde zu haben, auch mal in Phädra, Esther oder Athalie hineinzuschauen. Sie murmelte die langen Monologe ihres Weggefährten in einem nahezu durchgehenden Fluß vor sich hin, und der kleine Veyrenc war aufgewachsen in diesem Singsang, der für seine Kinderohren genauso natürlich klang, wie wenn jemand im Haus vor sich hin summte.
    Zu seinem Unglück übernahm er diesen Tick und antwortete seiner Großmutter instinktiv auf die gleiche Weise, das heißt in Sätzen mit zwölf Versfüßen. Da er sich aber nicht wie sie nächtelang jene Tausende Verse einverleibt hatte, mußte er sie erfinden. Solange er im Elternhaus gelebt hatte, war alles gut gegangen. Aber sobald er in die Außenwelt entlassen worden war, war ihn dieser Racinesche Reflex teuer zu stehen gekommen. Er hatte ohne Erfolg verschiedene Methoden ausprobiert, ihn zu unterdrücken, dann hatte er ihm schließlich nachgegeben, hatte weiter drauflos gedichtet und die Verse wie seine Großmutter vor sich hin gemurmelt, und diese Marotte hatte seine Vorgesetzten in Rage versetzt. Sie hatte ihn auch auf vielerlei Art gerettet, denn das Leben in zwölffüßigen Versen zu skandieren schuf einen unvergleichlichen Abstand – der seinesgleichen sucht – zwischen ihm und dem Lärm der Welt. Dieser Distanzeffekt hatte ihm stets Frieden verschafft und ihn zum Nachdenken gebracht, vor allem aber hatte er ihn davor bewahrt, im Eifer des Gefechts nicht wiedergutzumachende Fehler zu begehen. Trotz seiner Dramatik und seiner flammenden Sprache war Racine das beste Mittel gegen Erregung, kühlte er doch auf der Stelle jegliche Lust auf maßlose

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