Die dritte Jungfrau
Reaktionen ab. Veyrenc machte bewußt davon Gebrauch, nachdem er begriffen hatte, daß seine Großmutter auf diese Weise ihr Leben in Ordnung gehalten und geregelt hatte. Ganz persönliche Medizin, niemandem sonst bekannt.
Momentan mußte die Großmutter ihre Arznei entbehren, und Veyrenc schrieb Britannicus in großen Buchstaben für sie ab. In dem schlichten Kleid der Schönheit, die man aus dem Schlummer riß. Veyrenc setzte seinen Füller ab. Er hörte das Sandkörnchen die Treppe heraufkommen, er erkannte seinen Schritt, das rasche Geräusch seiner Stiefel, denn das Sandkörnchen zog seine Riemenlederstiefel nie aus. Es würde zunächst auf dem Treppenabsatz in der fünften stehenbleiben, bei der gebrechlichen Dame klingeln, um ihr ihre Post und das Mittagessen zu übergeben, dann wäre sie in einer Viertelstunde oben. Das Sandkörnchen – mit anderen Worten die Bewohnerin dieser Etage, mit anderen Worten Camille Forestier, die er nun schon seit neunzehn Tagen bewachte. Nach dem, was man ihm erzählt hatte, stand sie für ein halbes Jahr unter Polizeischutz, aus Angst vor der möglichen Rache eines Mördergreises {1} . Ihr Name war alles, was er von ihr wußte. Und daß sie den Kleinen allein aufzog, ohne daß ein Mann am Horizont sichtbar gewesen wäre. Ihren Beruf konnte er einfach nicht erraten, er schwankte zwischen Klempnerin und Musikerin. Vor zwölf Tagen hatte sie ihn freundlich gebeten, aus dem Verschlag herauszukommen, weil sie eine Schweißarbeit am Deckenrohr vornehmen wollte. Er hatte seinen Stuhl auf den Treppenabsatz geschafft und zugeschaut, wie sie unter dem Geklirr der Werkzeuge und der Flamme des Schweißbrenners konzentriert und gewissenhaft arbeitete. Während dieser Begebenheit hatte er gespürt, wie er in das verbotene und gefürchtete Chaos zurückkippte. Seitdem brachte sie ihm zweimal am Tag einen heißen Kaffee, um elf und um sechzehn Uhr.
Er hörte, wie sie ihre Tasche im fünften Stock absetzte. Der Gedanke, den Verschlag auf der Stelle zu verlassen, um diesem Mädchen niemals wieder zu begegnen, ließ ihn von seinem Stuhl aufstehen. Er preßte seine Arme an sich, hob den Kopf zum Oberlicht und musterte sein Gesicht im Staub der Scheibe. Absonderliches Haar, uninteressante Züge, ich bin häßlich, ich bin unsichtbar. Veyrenc holte tief Luft, schloß die Augen, murmelte:
»Ich seh’s ja, deine Seele bebt, du zitterst, ach.
Bezwinger Trojas, an nur einem Tag nahmst du
die Kapitale ein, des Volkes Gunst dazu!
Und nun wird wegen einem Weib dein Herze schwach?«
Nein, mitnichten. Veyrenc setzte sich ruhig wieder hin, seine vier Verse hatten ihn abgekühlt. Manchmal hatte er sechs oder acht nötig, manchmal genügten zwei. Gelassen fuhr er mit seiner Abschrift fort, zufrieden mit sich selbst. Die Sandkörner treiben vorüber, die Vögel fliegen davon, die Selbstbeherrschung bleibt. Kein Grund zur Aufregung.
Camille legte eine Pause im fünften Stock ein, nahm das Kind auf den anderen Arm. Wahrscheinlich wäre es das Einfachste, diese Treppe wieder hinunterzugehen und erst um zwanzig Uhr zurückzukommen, wenn sie den wachhabenden Bullen ausgewechselt hätten. Die neun Grundsätze des Tapferen sind die Flucht, behauptete ihre türkische Freundin, Cellistin in Saint-Eustache, die über einen Schatz an ebenso wunderlichen wie unverständlichen und wohltuenden Sprichwörtern verfügte. Offenbar gab es einen zehnten Grundsatz, doch Camille kannte ihn nicht und dachte ihn sich lieber selbst aus. Sie nahm Post und Besorgungen aus ihrer Tasche und klingelte an der Tür links. Die Treppen waren für Yolande zu anstrengend geworden, ihre Beine zu schwach, ihr Gewicht zu schwer.
»Ein Jammer, das«, sagte Yolande, als sie die Tür öffnete. »Seinen Jungen ganz allein großzuziehen.«
Jeden Tag brachte die alte Yolande diese Klage vor. Camille trat ein, legte ihre Einkäufe und die Briefe auf den Tisch. Dann machte die alte Dame ihr, wer weiß, warum, eine warme Milch wie für einen Säugling.
»Es ist gut so, es ist ruhig«, antwortete Camille gewohnheitsmäßig und setzte sich.
»Dummes Zeug. Eine Frau ist nicht fürs Alleinsein geschaffen. Selbst wenn die Männer einem nur Scherereien einbringen.«
»Sehen Sie, Yolande. Auch die Frauen bringen einem nur Scherereien ein.«
Sie hatte diese Diskussion hundertmal gehabt, fast Wort für Wort, ohne daß sich Yolande jemals daran zu erinnern schien. An dieser Stelle versetzte ihre Bemerkung die dicke Frau stets in ein
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