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Die dritte Jungfrau

Die dritte Jungfrau

Titel: Die dritte Jungfrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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Finger fest um die perligen Geweihstangen des Großen Roten schlossen. Dies war nicht gerade der Augenblick, sie fallen zu lassen. Veyrenc warf ihm einen ironischen Blick zu.
    »Wankt nicht, Seigneur, so schwer auch die Trophäen«, murmelte er.
    »Ich habe nicht darum gebeten, Veyrenc.«
    »Man hat sie Euch geschenkt, Ihr habt sie abgetrennt.
    Warum nur flieht Ihr vor der Geste dieser Nacht, die Euch zum Träger einer lichten Hoffnung macht.«
    »Es reicht, Veyrenc. Tragen Sie sie selbst, oder hören Sie auf zu reden.«
    »Nein, Seigneur. Weder das eine noch das andere.«

23
    Oswalds Schwester Hermance hielt sich an zwei Prinzipien, die sie vor den Gefahren der Welt schützen sollten: nicht nach zweiundzwanzig Uhr aufbleiben und niemanden mit Schuhen in ihr Haus lassen. Leise stiegen Oswald und die beiden Polizisten mit ihren erdverkrusteten Schuhen in der Hand die Treppe hinauf.
    »Es gibt nur ein Zimmer«, flüsterte Oswald, »aber es ist groß. Ist Ihnen das recht?«
    Adamsberg stimmte zu, hatte es jedoch nicht sonderlich eilig, seine Nacht mit dem Lieutenant zu verbringen. Und auch Veyrenc stellte erleichtert fest, daß in dem Zimmer zwei hohe Holzbetten standen, zwischen denen ein zwei Meter breiter Abstand war.
    »Ein tiefes Tal soll zwischen Bett und Bett bestehn, auf daß die schlafend Seelen nicht ineinandergehn.«
    »Das Badezimmer ist nebenan«, fügte Oswald hinzu.
    »Vergessen Sie nicht, barfuß zu bleiben. Falls Sie unglücklicherweise mit Schuhen reingehen sollten, könnte sie das umbringen.«
    »Selbst wenn sie nichts davon erfährt?«
    »Es kommt alles heraus, besonders das, was man verschweigt. Ich warte unten auf dich, Béarner. Wir beide müssen uns noch unterhalten.«
    Adamsberg warf seine feuchte Jacke über den Pfosten des linken Bettes und stellte lautlos das große Geweih auf den Fußboden; Veyrenc hatte sich, mit Blick zur Wand und voll angekleidet, bereits hingelegt.
    »Schläft dein Vetter?« fragte Oswald, als der Kommissar zu ihm in die kleine Küche hinunterkam.
    »Er ist nicht mein Vetter, Oswald.«
    »Seine Haare, ich nehme an, das ist was Persönliches«, fragte der Normanne.
    »Etwas sehr Persönliches«, bestätigte Adamsberg. »Und jetzt erzähl.«
    »Eigentlich wollte gar nicht ich, sondern Hermance, daß ich’s dir erzähle.«
    »Aber sie kennt mich doch gar nicht, Oswald.«
    »Vermute mal, jemand hat ihr dazu geraten.«
    »Wer?«
    »Vielleicht der Pfarrer. Bemüh dich nicht, Béarner. Hermance und das Vernünftige sind zweierlei. Sie hat so ihre eigenen Vorstellungen, aber man weiß nicht immer genau, wo sie sie herhat.«
    Oswalds Stimme klang plötzlich bedrückt, und Adamsberg wechselte das Thema.
    »Nicht weiter wichtig, Oswald. Erzähl mir von diesem Schatten.«
    »Eigentlich hab nicht ich ihn gesehen, sondern mein Neffe Gratien.«
    »Wie lange ist das her?«
    »Über fünf Wochen, ein Dienstagabend war’s.«
    »Und wo war das?«
    »Auf dem Friedhof, Béarner, wo denn sonst?«
    »Was hat dein Neffe denn auf dem Friedhof gemacht?«
    »Er war nicht auf dem Friedhof, er war auf dem schmalen Weg, der oberhalb hinaufführt. Also, ich meine den Weg, der hinauf- oder hinunterführt, je nachdem, wie du’s nimmst. Jeden Dienstag und jeden Freitag wartet er da auf seine Freundin, wenn sie mit ihrem Dienst fertig ist. Das ganze Dorf weiß Bescheid, außer seiner Mutter.«
    »Wie alt ist er?«
    »Siebzehn. Mit Hermance, die wie ein Uhrwerk um zweiundzwanzig Uhr einschläft, hat er leichtes Spiel. Vorsicht, verrat ihn bloß nicht.«
    »Und weiter, Oswald?«
    Oswald goß Calvados in zwei Gläschen und setzte sich seufzend wieder hin. Er blickte Adamsberg aus seinen kristallklaren Augen an und kippte die Menge mit einemmal hinter.
    »Auf dein Wohl.«
    »Danke.«
    »Soll ich dir mal was sagen?«
    Er wird es sowieso sagen, dachte Adamsberg.
    »Es ist das erstemal, daß ein Fremder die Ehren von einem unserer Hirsche mitnimmt. Nun kann ich sagen, ich habe alles in meinem Leben gesehen.«
     ›Alles gesehen‹ ist übertrieben, dachte Adamsberg. Aber die Sache mit dem Geweih war offensichtlich von Bedeutung. Man hat sie Euch geschenkt, Ihr habt sie abgetrennt. Der Kommissar war erstaunt und verärgert zugleich, daß er einen Vers von Veyrenc im Kopf behalten hatte.
    »Wurmt es dich, daß ich sie mitnehme?« fragte er.
    Angesichts einer so persönlichen und direkten Frage gab Oswald eine ausweichende Antwort.
    »Robert muß dich schon verdammt schätzen, wenn er sie dir geschenkt hat.

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