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Die dritte Jungfrau

Die dritte Jungfrau

Titel: Die dritte Jungfrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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hierherkommen wollte.
    »Die zwei Kugeln haben ihn in die Brust getroffen. Er liegt auf der Seite, und sein Herz wurde rechts abgelegt.«
    »Der Mörder geht nicht methodisch vor.«
    »Er will das Tier einfach nur töten, fertig.«
    »Oder sein Herz herausholen«, sagte Oswald.
    »Was wirst du jetzt tun, Béarner?«
    »Es mir ansehen.«
    »Jetzt?«
    »Wenn einer von euch mitgeht. Ich habe Taschenlampen.«
    Die Plötzlichkeit des Vorschlags gab zu denken.
    »Wäre möglich«, sagte der Großvater.
    »Oswald könnte mitgehen. Er könnte seine Schwester besuchen.«
    »Wäre möglich«, sagte Oswald.
    »Du müßtest sie unterbringen. Oder sie wieder hierherbringen. Es gibt kein Hotel in Opportune.«
    »Wir müssen heute abend nach Paris zurück«, sagte Veyrenc.
    »Es sei denn, wir bleiben«, sagte Adamsberg.
     
    Eine Stunde später besahen sie sich den Schauplatz des Mordes. Im Angesicht des Tieres, das auf dem Weg lag, begriff Adamsberg das wahre Ausmaß des Schmerzes, den die Männer empfanden. Oswald und Robert senkten entsetzt den Kopf. Gewiß, es war ein Tier, ein Hirsch, doch ebenso war es pure Grausamkeit und ein Verbrechen an der Schönheit.
    »Ein prächtiges Männchen«, sagte Robert mit erstickter Stimme. »Das noch nicht alles gegeben hatte.«
    »Er hatte sein Rudel«, erklärte Oswald. »Fünf Weibchen. Sechs Kämpfe im letzten Jahr. Ich kann dir sagen, Béarner, ein solcher Hirsch, der wie ein Edelmann kämpfte, der hätte seine Frauen noch vier oder fünf Jahre behalten, bevor man ihn entthront hätte. Kein einziger Kerl hier aus der Gegend hätte auf den Großen Roten geschossen. Der bekäme tapferen Nachwuchs, das sah man gleich.«
    »Er hatte drei rote Flecken auf der rechten Flanke und auf der linken zwei. Deshalb nannten wir ihn den Großen Roten.«
    Im Grunde genommen ein Bruder, oder doch zumindest ein entfernter Vetter, dachte Veyrenc und verschränkte die Arme. Robert kniete sich neben den großen Körper hin und streichelte sein Fell. Im Dunkel dieses Waldes, im strömenden Regen und in Gesellschaft dieser schlecht rasierten Männer konnte Adamsberg sich nur mit Mühe vorstellen, daß im selben Moment anderswo Autos durch Städte fuhren und Fernseher flimmerten. Mathias’ prähistorische Zeiten zogen an seinem geistigen Auge vorüber, intakte Zeiten. Er wußte nicht mehr, ob der Große Rote lediglich ein Hirsch war oder ein Mensch oder eine göttliche Natur, die zur Strecke gebracht, ausgeraubt und geplündert worden war. Ein Hirsch, den man auf die Wände einer Höhle malen würde, um sich zu erinnern und ihn zu ehren.
    »Wir beerdigen ihn morgen«, sagte Robert und stand schwerfällig auf. »Wir haben auf dich gewartet, verstehst du. Wir wollten, daß du ihn mit eigenen Augen siehst. Oswald, gib mir die Axt.«
    Oswald kramte in seiner großen Ledertasche und holte schweigend das Werkzeug heraus. Robert strich über die Schneide, kniete sich neben den Kopf des Hirsches hin und zögerte. Dann wandte er sich zu Adamsberg um.
    »Dir gebühren die Ehren, Béarner«, sagte er und reichte ihm die Axt, mit dem Stiel voran. »Schlag du ihm das Geweih ab.«
    »Robert«, unterbrach Oswald ihn in unsicherem Ton.
    »Ich hab’s mir überlegt, Oswald, er hat es verdient. Er war müde, er war weit weg, er ist extra wegen dem Großen Roten hergekommen. Ihm gebührt die Ehre, ihm gebührt das Geweih.«
    »Robert«, fing Oswald wieder an, »der Béarner stammt nicht von hier.«
    »Nun, jetzt schon«, meinte Robert und legte Adamsberg die Axt in die Hände.
    Adamsberg stand plötzlich mit dem Werkzeug da, dicht neben dem Kopf des Tieres.
    »Schlag du es für mich ab«, sagte er zu Robert, »ich will ihn nicht noch verschandeln.«
    »Das kann ich nicht. Derjenige, der es mitnimmt, muß es auch abhacken. Du mußt es selbst machen.«
    Unter Roberts Anleitung, der den Kopf des Tieres an den Boden drückte, schlug Adamsberg mit der Axt sechsmal zu, an den Stellen, die der Normanne ihm zeigte. Robert nahm das Werkzeug wieder an sich, hob das Geweih hoch und übergab es dem Kommissar. Vier Kilo pro Geweihstange, schätzte Adamsberg, während er sie in der Hand wog.
    »Verlier sie nicht«, sagte Robert, »die bringen Leben.«
    »Also eigentlich«, wandte Oswald ein, »ist es nicht sicher, ob es wirklich hilft, aber schaden tut’s auch nicht.«
    »Und trenne sie nie«, brachte Robert seinen Satz zu Ende. »Hörst du? Die gehören immer zusammen.«
    Adamsberg versprach es in die Dunkelheit hinein, während sich seine

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