Die dritte Jungfrau
an die endlosen Messen seiner Kindheit in einem eisigen kleinen Kirchenschiff erinnerte. Nur dort hatte sich seine sonst so robuste, unvergängliche Mutter zu seufzen gestattet, wobei sie ein Taschentuch an ihre Augen drückte, was ihn immer in große Verlegenheit stürzte, denn dann erahnte er eine schmerzvolle Innigkeit in ihr, von der er lieber nichts gewußt hätte. Zugleich aber hatte er während ebenjener Messen auch am intensivsten geträumt. Der Pfarrer zeigte auf ein Möbel ihm gegenüber, eine lange Holzbank, auf die sich die drei Polizisten wie Schulkinder in eine Reihe setzten. Auf Grund des unvorhersehbaren Inhalts der Notfallbeutel trugen Adamsberg und Veyrenc beide weiße Hemden. Das von Adamsberg war viel zu groß und reichte ihm bis über die Hände.
»Ihr Vikar ist ja ein rechter Zerberus«, meinte Adamsberg und krempelte sich die Ärmel hoch. »Ich dachte eigentlich, der heilige Hieronymus würde mir die Türen des Pfarrhauses öffnen.«
»Der Vikar schützt mich vor den Blicken der Außenwelt«, sagte der Pfarrer und beobachtete eine frühe Fliege, die durchs Zimmer flog. »Er will nicht, daß man etwas merkt. Er schämt sich, er versteckt mich. Wenn Sie ein Gläschen trinken möchten, auf der Anrichte steht was. Ich trinke nicht mehr. Ich weiß nicht, wieso, aber es macht mir keinen Spaß mehr.«
Adamsberg hielt Danglard mit einem Wink zurück, es war erst neun Uhr morgens. Erstaunt darüber, daß keine Gegenfrage kam, hob der Pfarrer den Kopf. Der war kein Normanne, er schien fähig, geradeheraus reden zu können, was die drei Polizisten diesmal in Verlegenheit brachte. Mit einem Pfarrer über seine Geheimnisse zu reden – die man sich zwangsläufig heikel ausmalte – war sehr viel schwieriger als die Unterhaltung mit einem Ganoven, dem man, die Ellbogen auf dem Tisch, gegenübersaß. Adamsberg kam es vor, als müsse er mit genagelten Stiefeln einen empfindlichen Rasen betreten.
»Der Vikar versteckt Sie«, wiederholte er, indem er den Trick der Normannen mit der Behauptung-die-die-Frage-enthält anwandte.
Der Pfarrer zündete sich eine Pfeife an und verfolgte mit den Augen die junge Fliege, die im Tiefflug über seine Tastatur hinwegrauschte. Er hielt seine Hand, die er zu einem rundlichen Deckel geformt hatte, bereit, haute auf den Tisch und – verfehlte sie.
»Ich will sie nicht töten«, erklärte er, »sondern nur einfangen. Ich interessiere mich aus reiner Liebhaberei für die Anzahl der Schwingungen, die von den Flügeln von Fliegen ausgehen. Sie sind sehr viel schneller und lauter, wenn sie in der Falle sitzen. Sie werden’s gleich sehen.«
Er blies einen großen Rauchkringel aus und sah seine Besucher an, die Hand noch immer zur Kapsel gekrümmt.
»Mein Vikar hatte den Einfall mit der Depression«, sagte er, »so lange, bis sich alles wieder beruhigt hat. Fast vollkommen abgeschottet hat er mich, auf Ersuchen der Diözese. Seit Wochen schon habe ich keinen Menschen mehr gesehen, ich bin gar nicht so unglücklich, wieder mal mit jemandem reden zu können, und sei’s mit einem Bullen.«
Angesichts des Rätsels, das ihnen der Pfarrer da ohne alle Scham aufgab, zögerte Adamsberg. Der Mann brauchte einen Zuhörer, jemanden, der ihn verstand, warum auch nicht. Sein Leben lang nahm sich ein Pfarrer der Ängste seiner Schäflein an, ohne jemals ein Recht darauf zu haben, seine eigene Klage herauszuflüstern. Der Kommissar zog verschiedene Möglichkeiten in Betracht, enttäuschte Liebe, fleischliche Schuldgefühle, Verlust der Reliquien, Mörderkirche Opportune.
»Verlust der Berufung«, schlug Danglard vor.
»Genau das«, sagte der Pfarrer und nickte dem Commandant zu, als wolle er ihm eine gute Note erteilen.
»Plötzlich oder allmählich?«
»Wo liegt der Unterschied? Ein plötzliches Gefühl ist doch nichts weiter als das Endstadium einer verborgenen Allmählichkeit, die man nur nicht erkannt hat.«
Die Hand des Pfarrers stürzte sich auf die Fliege, die ihm zwischen Daumen und Zeigefinger entwischte.
»Ungefähr so wie das Hirschgeweih, wenn es aus der Haut wächst«, sagte Adamsberg.
»Wenn Sie so wollen. Die Larve des Gedankens wächst unbemerkt in einem heran, eines Tages aber nimmt sie Gestalt an und löst sich ab. Die Berufung kommt einem nicht plötzlich abhanden, wie einem ein Buch verlorengeht. Im übrigen findet man ein Buch immer wieder, seine Berufung jedoch niemals. Was beweist, daß es mit der Berufung schon eine ganze Weile bergab ging, ohne große
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