Die dritte Jungfrau
Sebastian am Ende vier Arme hatte, die heilige Anna drei Köpfe, der heilige Johannes sechs Zeigefinger und so weiter und so fort. Wir in Le Mesnil sind nicht so ehrgeizig. Unsere Schafsknochen stammen vom Ende des 15. Jahrhunderts, was schon recht beachtlich ist. Ob nun Überreste von Menschen oder Tieren, ist das im Grunde nicht unerheblich?«
»Der Kirchenplünderer steht also mit den Resten einer Hammelkeule da«, meinte Veyrenc.
»Nein, stellen Sie sich vor, er hat vorher aussortiert. Nur menschliche Knochenteile hat er mitgenommen, ein Schienbein, einen zweiten Halswirbel und drei Rippen. Ein echter Kenner oder aber ein Kerl aus der Gegend hier, der um das schmähliche Geheimnis des Reliquiengefäßes wußte. Auch deshalb suche ich ihn«, fügte er hinzu und zeigte auf den Bildschirm seines Computers. »Ich frage mich, was er im Schilde führt.«
»Hat er vor, sie zu verkaufen?«
Der Pfarrer schüttelte den Kopf.
»Ich durchforste das Internet nach Anzeigen, aber ich finde kein Wort über das Schienbein vom heiligen Hieronymus. Mit so etwas wird nicht mehr gehandelt. Und Sie, wonach suchen Sie? Es heißt, Sie haben Pascalines Leiche ausgegraben. Die Gendarmerie hat die Sache mit dem herabgefallenen Stein bereits untersucht. Ein Unfall eben. Pascaline hat nie jemandem ein Unrecht getan, und sie besaß auch keinen Sou, den sie hätte hinterlassen können.«
Die Hand des Pfarrers sauste herab, diesmal saß die Fliege in der Falle und gab sofort ein deutlicheres Summen von sich.
»Hören Sie es?« sagte er. »Ihre Antwort auf den Streß?«
»Tatsächlich«, sagte Veyrenc höflich.
»Gibt sie ihren Gefährten ein Signal? Oder setzt sie die für eine Flucht nötige Energie frei? Oder können Insekten aufgeregt sein? Das ist die Frage. Haben Sie schon mal den Ton einer sterbenden Fliege gehört?«
Der Pfarrer hielt sein Ohr jetzt ganz nah an seine Hand, er schien die Tausende Flügelschläge pro Sekunde der jungen Fliege zu zählen.
»Wir haben sie nicht ausgegraben«, sagte Adamsberg, indem er wieder auf Pascaline zurückkam. »Wir versuchen herauszufinden, warum sich jemand die Mühe gemacht hat, drei Monate nach ihrem Tod ihren Sarg zu öffnen und den Kopf freizulegen.«
»Großer Gott«, flüsterte der Pfarrer und ließ die Fliege los, die steil nach oben davonflog. »Das ist ja abscheulich.«
»Eine andere Frau aus der Gegend hier hat dasselbe Schicksal erlitten. Élisabeth Châtel aus Villebosc-sur-Risle.«
»Die kannte ich ebenfalls gut, Villebosc gehört zu meinen Gemeinden. Wegen eines alten Familienzwistes ist Élisabeth allerdings in Montrouge beerdigt.«
»Genau dort ist ihr Sarg auch aufgebrochen worden.«
Mit einem heftigen Ruck schob der Pfarrer seinen Bildschirm zurück und rieb sich das linke Auge, um dem Zucken seines Lids ein Ende zu bereiten. Adamsberg fragte sich, ob der Mann – vom Verlust der Berufung mal abgesehen – nicht wirklich eine Depression gehabt hatte und sein eigenwilliges Benehmen vielleicht darauf zurückzuführen war. Danglard, der noch immer mit der Pinzette in seinem Schatz herumlas, war ihm keinerlei Hilfe, um die Aufmerksamkeit ihres Gastgebers ein wenig zu lenken.
»Soviel ich weiß«, sagte der Pfarrer und streckte Daumen und Zeigefinger aus, »gibt es für eine Profanation nur zwei Gründe, die beide gleichermaßen schrecklich sind. Entweder unbändigen Haß, in diesem Fall werden die Leichen verwüstet.«
»Nein«, sagte Adamsberg, »man hat sie nicht angerührt.«
Der Pfarrer knickte seinen Daumen weg, was hieß, daß er diese Fährte aufgab.
»Oder unbändige Liebe, die leider Gottes nicht sehr weit davon entfernt ist und mit einer krankhaften Fixierung auf das Sexuelle einhergeht.«
»Haben Élisabeth und Pascaline denn bei irgendwem eine heftige Leidenschaft ausgelöst?«
Der Pfarrer knickte seinen Zeigefinger weg, auch diese Möglichkeit schloß er aus.
»Beide waren sie Jungfrauen, und zwar äußerst resistente, glauben Sie mir. Von einer so eisernen Tugend, daß einem die Lust vergehen konnte, diese noch zu predigen.«
Danglard horchte auf und fragte sich, wie dieses ›glauben Sie mir‹ wohl auszulegen sei. Er sah kurz zu Adamsberg, der ihm zu verstehen gab, er solle schweigen. Wieder drückte sich der Pfarrer den Finger aufs Augenlid.
»Es gibt Männer, für die stellen speziell eiserne Jungfrauen einen Reiz dar«, sagte Adamsberg.
»Es ist unbestritten eine Herausforderung«, bestätigte der Pfarrer, »es verlockt einen ein Gewinn, den
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