Die dritte Sünde (German Edition)
prägt unsere zu einseitige Vorstellung von den gierigen victorianischen Unternehmern. Tatsächlich hat auch dieses Bild eine gewisse Berechtigung, doch muss verstanden werden, dass staatliche Eingriffe oder Vorschriften, die das Recht des freien Bürgers – sowohl das des Arbeitgebers wie auch des Arbeitnehmers – beschneiden, in England traditionell misstrauisch beäugt wurden und werden. Eine Haltung, die englisches und amerikanisches Denken heute noch prägt. So wurden auch Pläne für staatliche Verordnungen zum Thema Arbeitszeitregelungen, Vertragsrecht etc. ängstlich abgelehnt, wenn sie sich auch nicht ganz vermeiden ließen. Stattdessen war man der allgemeinen Ansicht, dass » der Egoismus des Einzelnen durch natürlich gesetzte Grenzen zwangsläufig zum Wohle aller geraten müsse und damit zum Glück aller« (Jeremy Bentham). Hier mag auch der Grund dafür liegen, dass kommunistische Ideen in England, ihrem Entstehungsort, nie Fuß fassen konnten. Auch wurde sehr lange der breiten Masse der ungebildeteten Bevölkerung, wie auch den Frauen, jede Fähigkeit zur politischen Mündigkeit abgesprochen. Diese galt es zu leiten wie ahnungslose Kinder.
Das führt uns zur gesellschaftlichen Situation der Frauen im Victorianismus. Tatsächlich handelt es sich dabei um ein recht finsteres Kapitel und es ist kein Wunder, dass die emanzipatorische Suffragetten-Bewegung, die endlich auch das Wahlrecht für Frauen einforderte, ihren Anfang in England nahm. Erstaunlicherweise aber erst nach dem Ersten Weltkrieg, der geschichtlich als Ende des 19. Jahrhunderts betrachtet wird. Frauen hatten, unerheblich welcher Schicht sie entstammten, keinerlei Rechte. Verdammt zur politischen Unmündigkeit, konnten sie diese auch nicht einfordern. Der Mann war Herr und Meister von Ehefrau und Familie, ihm oblag alle Entscheidungsbefugnis, sogar das Recht der körperlichen Züchtigung und des uneingeschränkten Zugriffs auf den Körper der Ehefrau. Weder erwiesene Grausamkeit noch fortgesetzter Ehebruch, eheliche Vergewaltigung, Trunksucht oder Verschwendung waren ein anerkannter Scheidungsgrund bis zu einer ersten zögerlichen Ehereform im Jahre 1857. Im Moment der Eheschließung erlangte der Ehemann sogar sämtliche Verfügungsrechte über (so vorhanden) Besitz und Vermögen seiner Angetrauten. Selbst wenn er dies mit vollen Händen zum Fenster hinauswarf oder verspielte, konnte die Ehefrau nichts dagegen tun (dies änderte sich erst um 1890, als der Frau die Verfügungsgewalt über ihr Vermögen zugebilligt wurde). Vor Gericht galt das Wort der Frau wie das eines Kindes. Sie wurde gehört, konnte aber selbst nichts vereidigt bezeugen oder beurkunden lassen – in allen Bereichen war sie somit auf das Wohlwollen und die Fürsorge ihres Mannes angewiesen. Begründet wurde diese – erstaunlicherweise auch weitestgehend von den Frauen akzeptierte – Einstellung und Praxis mit der angeblich angeborenen Schwäche der Frau und den damit einhergehenden geringeren geistigen Fähigkeiten. Allerdings hatte diese komplette Entmündigung auch den Effekt, dass der Ehegatte im Gegenzug für jeden Fehltritt seiner Frau – und seien es kriminelle Taten – verantwortlich gemacht wurde, da er sie ja dazu angeleitet haben musste. Oft konnte der (betuchte) Betroffene sich dem aber dann durch geschickte Argumentation und gute Anwälte entziehen.
Scheidungen waren in England nur sehr bedingt möglich. Entweder oblag die Entscheidung darüber der Church of England und wurde durch eine nicht vollzogene Ehe, ein unbekanntes Ehehindernis oder aber einen einfachen Ehebruch (der Frau) begründet. In diesem Fall konnte in der Regel nicht erneut geheiratet werden (es gab aber rechtliche Ausnahmen davon). Es handelte sich also im Grunde nur um eine »halbe« Scheidung. Wer jedoch eine vollständige Scheidung mit dem Recht auf eine erneute Verehelichung wünschte, konnte dies nur erreichen, wenn das Parlament (!) dem zustimmte. Demzufolge mussten diese Scheidungsgründe auch entsprechend schwer wiegen und von nahezu spektakulärer Natur sein. Dazu kam ein Spießrutenlauf durch verschiedene Institutionen – darunter das House of Lords – und ein erheblicher Kostenaufwand (1.800 £ bis 3.000 £, das entspricht in heutiger Währung 90.000 bis 150.000 €). Die Ehepartner waren also nahezu unauflöslich aneinandergefesselt. Da sich jede dieser Regelungen für die ärmeren Bevölkerungsschichten ohnehin verbot, pflegten scheidungswillige arme Männer ihre
Weitere Kostenlose Bücher