Die dritte Sünde (German Edition)
Allein den Kleiderschrank wieder in Ordnung zu bringen, würde mindestens noch eine weitere Stunde Arbeit in Miss Isobels Zimmer bedeuten. Sie wartete ungeduldig ab, bis das Mädchen wieder in seine Pantinen geschlüpft war und zerrte es dann hinter sich her. Es war ohnehin eine lächerliche Farce. Das blaue Kleid passte zwar in der Länge, schlotterte der spindeldürren Cathy aber um die schmalen Hüften. Ruby hielt noch einmal inne, um mit der beigefügten weißen Schleife um die Taille wenigstens etwas Halt in das Kleidungsstück zu bringen. Abschätzig schnalzte sie mit der Zunge. Nun, so konnte man es wenigstens lassen. Hoffentlich würde Miss Isobel den lächerlichen Anblick akzeptieren und nicht von ihr verlangen, noch mehr Kleider vom Dachboden zu holen. Dann führte sie Cathy die Treppe hinauf wieder am Wirtschaftstrakt vorbei und betrat dann die große Halle im Erdgeschoss. Cathy blieb augenblicklich der Mund offen stehen. Sie hätte sich nie träumen lassen, dass solche Pracht möglich war.
Die Eingangshalle war riesig. Eine zweiflügelig geschwungene Treppe aus poliertem Holz führte hinauf in die oberen Etagen von Whitefell. An beiden Wänden des Treppenaufgangs blickten ernst wirkende Herrschaften von dunkel gewordenen Gemälden mindestens ebenso streng auf sie hinab wie vorher Mrs Branagh. Der Blick des Mädchens wanderte nach oben und saugte sich fasziniert an dem erstaunlichen Deckengemälde fest. So etwas hatte sie noch nie gesehen! Eine verwirrende Anzahl wohlgestalteter Menschen drängte sich um einen Wagen, auf dem ein Engel oder ein Held zu fahren schien. Strahlendes Licht umspielte die in goldene Tücher gewandete und mit einem Lorbeerkranz bekrönte Figur. Ob diese Hallendecke vielleicht in Wirklichkeit ein Tor zum Himmel war?, überlegte Cathy ehrfürchtig. Da befahl Ruby: »Zieh dir die Pantinen aus! Ich möchte nicht, dass du mit diesen groben Dingern hier herauflärmst. So weit kommt es noch!«
Voller Scham streifte Cathy die Schuhe ab und bückte sich, um sie in die Hand zu nehmen. Da erweckte eine halb geöffnete Tür auf der Westseite der Halle ihre Neugier. Der breite Spalt gewährte Einblick in einen hellen, lichtdurchfluteten Saal. Ein Ausruf des Staunens entfuhr ihr. Wenn die Decke das Tor zum Himmel war, so musste dies der Thronsaal Gottes selbst sein. Nie zuvor hatte sie etwas Prächtigeres gesehen. Nicht einmal die Kirche in Marlborough war so schön, und diese war doch wahrhaftig das Schönste, was man sich vorstellen konnte.
»Das gefällt dir wohl!«, sagte Ruby mit einem zufriedenen Lächeln, als ob es sich bei dem Saal um ihren persönlichen Besitz handelte. »Whitefell ist überall in Wiltshire berühmt für diesen Festsaal, das kannst du mir glauben, auch wenn er wenig genutzt wurde in den letzten Jahren. Als Master Daniel noch hier wohnte, gab es so wunderbare Bälle! Schade, dass er nicht hier ist und immer noch in diesem schrecklichen Bombay aushalten muss. Doch wenn Miss Isobel gesellschaftlich eingeführt sein wird, werden hier rauschende Feste gefeiert werden, das verspreche ich dir.«
Cathy hatte im Grunde nichts von dem, was Ruby ihr mitteilte, verstanden. Was um alles in der Welt war nur Bombay ? Sie hatte dieses Wort noch nie gehört. Noch weniger konnte sie mit der Verheißung rauschender Feste etwas anfangen. Das Wasser eines Baches konnte rauschen, aber ein Fest? Das überstieg ihr Verständnis.
Diese vielen geheimnisvollen Fragen ließen ihre dunkelblauen Augen rund werden, aber Ruby ging nicht weiter darauf ein. Sie hatte wirklich nicht den ganzen Tag Zeit für diesen Unsinn! »Nun komm schon!«, raunzte sie das Mädchen einmal mehr an und stieg vor ihr die Treppe hinauf in das erste Obergeschoss, wo Miss Isobel beschlossen hatte, ihren ungewöhnlichen Gast zu empfangen.
Cathy kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Whitefell war wirklich ein Märchenschloss. Es musste direkt aus der Sagenwelt stammen, denn wie sonst konnte man sich diese prächtigen Flure und hohen, verzierten Türen erklären? Hinter jeder dieser Türen warteten sicher neue Wunder. Selbst die Wände der Flure waren mit kostbaren Stoffen bespannt, die offenbar nur dazu dienten, die herrlichen Gemälde noch besser hervorzuheben, auf denen Jagdszenen oder andere herrschaftliche Häuser in beeindruckenden Farben dargestellt waren.
Schließlich hielt ihre unwirsche Führerin vor einer zweiflügeligen Tür am Ende des langen Ganges, klopfte an und öffnete leise, als von innen ein helles
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