Die Duftnäherin
sternenklare Nacht. Margrite sog die klare Luft mit einem tiefen Atemzug in ihre Lungen ein und sah sich um. Der Platz neben dem Wirtshaus, wo noch gestern der Gaul gestanden hatte, war leer. Einen Moment war sie versucht, nach Cecilie zu rufen, doch schien ihr das im Hinblick auf den möglichen Diebstahl nicht besonders schlau. Vorsichtig näherte sie sich dem Wirtshaus. Sie wusste nicht, ob der Wirt in der Nacht noch zurückgekommen war. Ebenso wenig war ihr bekannt, wie es sich mit der Mutter des Jungen verhielt. Aber es war sehr wahrscheinlich, dass die Familie die oberen Räume des Gasthauses bewohnte. Sie musste also leise sein, um keinen von ihnen zu wecken. Darauf bedacht, nur ja keinen Laut von sich zu geben, öffnete sie die Tür zum Schankraum. Der Gestank hatte sich im Vergleich zum Vortag etwas gelegt. Trotzdem stiegen Margrite immer noch die unterschiedlichsten Gerüche in die Nase, die ihr alles andere als angenehm waren. Sie riss die Augen weit auf, um in der Dunkelheit besser sehen zu können, und lauschte auf jedes Geräusch. Ein Schnarchen oder Atmen war nicht zu hören. Im Schankraum waren also weder Cecilie noch der Fremde, obwohl Margrite ganz fest damit gerechnet hatte, wenigstens einen von ihnen hier anzutreffen. Ihre Haut begann zu kribbeln, als sie neben dem ihr bekannten Gestank von Bier und menschlichen Absonderungen noch einen anderen Geruch wahrnahm, einen metallenen. Im selben Moment spürte sie, dass ihre Füße feucht wurden. Sie musste in irgendeine Lache getreten sein. Wie von selbst brachte ihr Verstand den Geruch und die Pfütze, in der sie stand, in einen Zusammenhang. Schnell trat sie zurück und stolperte zur Tür hinaus. Im Licht des Mondes hob Margrite einen ihrer Füße, um die Flüssigkeit genauer betrachten zu können, und unterdrückte einen Schrei. Sie rannte zur Scheune hinüber, riss die Tür auf, stürzte zu Anderlin und rüttelte ihn aus dem Schlaf.
»Komm schnell!«, waren die einzigen Worte, die sie herausbrachte. Verschlafen, vom Anblick der verstörten Margrite aber alarmiert, folgte er ihr ins Freie.
»Im Wirtshaus«, brachte sie flüsternd hervor.
Sie eilten zur Schänke hinüber, und Margrite öffnete die Tür, hielt Anderlin aber zurück, als er eintreten wollte.
»Du kannst es von hier aus sehen«, kündigte sie an und deutete mit dem Finger nach unten. Anderlin kniff die Augen zusammen. Er sah den Umriss eines Menschen am Boden liegen.
»Wir brauchen eine Fackel«, flüsterte er, doch Margrite schüttelte langsam den Kopf.
»Sieh genau hin, dann kannst du alles erkennen.«
Anderlin bückte sich hinab und trat so nah wie möglich heran. Er zuckte zurück, als er im einfallenden Mondlicht in die weit geöffneten Augen Cecilies blickte. Trotz des aufkommenden Ekels zwang er sich, sie genauer zu betrachten. In ihrem Mund steckte ein Stoffbündel, das wohl dazu gedient hatte, ihre Schreie zu unterdrücken. Ihr Kleid war vom Halsbund bis fast hinunter zur Taille aufgerissen und ließ einen Teil ihrer nackten Brust erkennen. Ihr Rock war bis über die Hüfte hochgeschoben, ihre Beine nackt und eigenartig verkrümmt, so als ob sie gar nicht zu Cecilies Oberkörper mit den seitlich gerade ausgestreckten Armen gehören würden. Eine große Blutlache hatte sich um sie herum ausgebreitet, ohne dass Anderlin in der Dunkelheit jedoch eine offene Wunde an ihrem Körper hätte ausmachen können.
»Dieses Schwein«, war das Einzige, was Anderlin entfuhr. Margrite sagte nichts. Vorsichtig schlossen sie die Tür wieder hinter sich, und Anderlin atmete mehrmals tief ein und aus. Der Schreck war ihm in alle Glieder gefahren. Mit seinen mehr als vierzig Lebensjahren hatte er schon so einiges gesehen. Doch eine dergestalt zu Tode gequälte Kreatur ließ Übelkeit in ihm aufsteigen und entsetzte ihn zutiefst.
»Was sollen wir jetzt tun?«
Margrite überlegte einen Moment. »Ist der Wirt gestern noch heimgekehrt, wie der Junge es angekündigt hat?«
Anderlin nickte. »Ja, kurz nachdem du gegangen bist.«
»Dann müssen wir ihn wecken und ihm die Schweinerei da drinnen zeigen.«
»Was ist, wenn er uns nicht glaubt und behauptet, wir seien das gewesen?«
Der Gedanke war Margrite auch schon gekommen, doch sie hatte ihn sofort wieder verworfen.
»Warum hätten wir so etwas tun sollen? Sie gehörte zu uns. Während sich der Kerl, der gestern noch hier war, dagegen klammheimlich mitten in der Nacht auf und davon gemacht hat.«
Anderlin rieb sich nachdenklich das Kinn.
Weitere Kostenlose Bücher