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Die Duftnäherin

Die Duftnäherin

Titel: Die Duftnäherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caren Benedikt
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Anna einen Augenblick lang in die Augen, dann entspannte sich seine Haltung.
    »Wenn das so ist.« Er gab das Tor frei. »Ich bin Bruder Hermannus, tretet ein.«
    Anna und Gawin folgten Hermannus durch einen Arkadengang, dessen spitz zulaufende Bögen sich im Gewölbe exakt in der Mitte der Decke trafen. Staunend betrachtete Anna die fein geschliffenen Wölbungen, die sorgsam gearbeiteten Säulen und Mauerabschlüsse mit den goldfarbenen Verzierungen und den farbigen Rändern, die fein und zierlich wirkten. Selbst in Lünen hatte sie noch kein so schönes, großes Gebäude betreten. Sie fühlte sich reich beschenkt und in einer Sicherheit geborgen, die sie nur aus frühesten Kindheitstagen kannte. Anna dachte daran, wie sehr ihrer Mutter dieser Ort gefallen hätte. Als sie noch klein war, hatte die Mutter sich am Abend nach getaner Arbeit oft zu ihr auf das Lager gekuschelt, sie in den Arm genommen und ihr Geschichten von Kirchenhäusern erzählt, die so groß, so wunderschön und prachtvoll waren, dass sie keinen Zweifel daran aufkommen ließen, dass es der wahrhaftige Wille des Herrn war, mit ihnen seine Macht auf Erden zu bekunden. Die Mutter berichtete ihr von einem Gotteshaus, das sie gesehen hatte und das so schön, groß und voller Prunk war, dass sie es in ihrem ganzen Leben nie mehr vergessen würde. Die Krypta, so schilderte sie Anna, ähnelte einer riesigen Halle mit vielen hohen Säulen, die durch Bögen miteinander verbunden waren. Die Fenster waren bunt und reich verziert, die Nischen und Steinsarkophage aus kostbarem Stein und teilweise mit Goldplättchen beschlagen. Ganz still hatte Anna dagelegen und der Stimme ihrer Mutter gelauscht, die ihr immer und immer wieder die Geschichte des Prachtbaus erzählte und dabei beschrieb, mit welchem Gefühl sie unter den großen Bögen hindurchgeschritten war, den Blick gen Himmel und Gott gerichtet in der Hoffnung auf dessen Gnade. Kurz vor dem Einschlafen, wenn die Geschichte fast zu Ende erzählt war, kam die Stelle, die Anna besonders liebte. Dann erzählte ihr die Mutter von dem einzigen Bewohner des Bauwerks, der seit dessen Fertigstellung in ihm lebte und dort noch sein würde, wenn sie selbst und Anna wie auch deren Kinder und Kindeskinder und sogar deren Enkel schon längst ihren Platz bei Gott gefunden hätten. Sie erzählte von der Besonderheit, die nur dieses eine Bauwerk besaß. Es war eine kleine, in Stein gemeißelte Maus, die im Ostchor des Doms in einer Nische saß und die Wand hinaufblickte. Anna wusste nicht, ob dies der Wahrheit entsprach oder nur eine Erfindung ihrer Mutter war, die sie mit diesem außergewöhnlichen Einfall zu unterhalten suchte. Doch selbst in diesem Moment, nach so vielen Jahren, durchströmte Anna ein warmes Gefühl bei dem Gedanken an diese Geschichte, die für sie Sicherheit und Kindheit bedeutete und die ihr hier, an diesem heiligen Ort, so nah, so greifbar schien, dass sie schon jetzt bedauerte, bald wieder von hier fortzumüssen.
    »Wartet hier drinnen!« Bruder Hermannus wies auf eine Tür. »Ich werde Prior Ortlieb holen.«
    Sie traten in die kleine Zelle, in der sich nur eine Pritsche und ein Stuhl befanden. Anna setzte sich auf die Lagerstatt.
    »Was glaubst du? Ob wir hierbleiben können?« Gawin nahm auf dem Stuhl Platz.
    »Wer weiß? Vielleicht, wenn wir ihnen von Nutzen erscheinen.«
    »Für heute Nacht können wir sicher verweilen. Was morgen ist, werden wir sehen.«
    Die Tür wurde geöffnet, und Bruder Hermannus betrat zusammen mit einem weiteren Mann das Zimmer.
    »Prior Ortlieb, dies sind die Fremden, von denen ich Euch berichtete.«
    Der Klostervorsteher trat näher.
    »Bruder Hermannus sagte, dass ihr uns eure Dienste angeboten habt. Was könnt ihr?«
    Gawin war vom Stuhl aufgesprungen und senkte zum Zeichen der Ehrerbietung wieder den Kopf.
    »Meine Schwester Anna ist eine gute Näherin, ich geschickt in vielen handwerklichen Arbeiten.«
    »In welchen?«
    »Was auch immer Ihr wollt.«
    »Habt ihr Werkzeug?«
    Diese Frage hatte Gawin befürchtet. »Nein, Herr!«
    »Ich habe verschiedene Garne und alles, was ich für das Nähen benötige, bei mir«, sagte Anna schnell. Gawin sah sie verblüfft an.
    »Und du? Wie willst du arbeiten, wenn du kein eigenes Werkzeug hast?«
    »Ich arbeite mit dem, was Ihr mir zur Verfügung stellt.«
    »Um es zu stehlen, wenn ihr euch wieder davonmacht?«
    »Wir stehlen nicht«, erwiderte Anna mit fester Stimme.
    Der Prior musterte die beiden Reisenden von oben bis unten.

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