Die Duftnäherin
etwas zu erkennen. Eine Gestalt stand auf dem höchsten Punkt der Anhöhe und beobachtete sie, lief dann los und stolperte zu ihr hinab. Schon wollte sie aufspringen und sich davonmachen, als sie ihn erkannte. Nur wenig später hatte Gawin sie erreicht und beugte sich über sie.
»Bist du verletzt?«
Eben noch starr vor Schreck, ließ sie sich nun von Gawin auf die Beine helfen, der erleichtert feststellte, dass ihr nichts weiter zu fehlen schien.
»Ich dachte schon, du hättest dir den Hals gebrochen.«
Anna lächelte ihn an. »Was machst du hier?«
»Nichts Besonderes«, murmelte er.
»Hast du es dir anders überlegt? Möchtest du doch mit mir kommen?«
Gawin zuckte mit den Schultern. »Vielleicht sollte ich dich tatsächlich ein Stück des Weges begleiten. Und wenn wir uns als Bruder und Schwester ausgeben, werden die Mönche des Klosters dich womöglich nicht abweisen.«
»Ein guter Gedanke.«
»Aber wir sind einander zu nichts verpflichtet«, stellte Gawin trotzig klar. »Wenn es genug ist, dann gehe ich, ohne mich erklären zu müssen.«
»Ich ebenso.«
Sie blickten sich an. Gawin streckte Anna den Arm entgegen, um ihre Abmachung mit einem Händedruck zu besiegeln. »Dann sind wir uns also einig«, stellte er fest, als sie seine Geste erwiderte und ihm dabei ein weiteres Lächeln schenkte.
Gemeinsam gingen sie über die Wiesen, stets darauf bedacht, einen gewissen Abstand zueinander einzuhalten. Am frühen Nachmittag machten sie Rast und aßen gemeinsam. Ihr Proviant würde zwar noch eine Zeitlang reichen, aber um den Wasservorrat war es schlechter bestellt. Gawin bemerkte Annas besorgten Blick, als sie den restlichen Inhalt ihres Trinkschlauchs prüfte.
»Wir werden noch heute das Kloster erreichen. Selbst wenn sie uns nicht bei sich aufnehmen, werden sie uns Brot und eine kleine Trinkration nicht verweigern«, sagte Gawin.
»Ich weiß«, erklärte Anna. »Lass uns weitergehen. Ich will noch vor Einbruch des Abends dort eintreffen.«
Sie standen auf, sammelten ihre Sachen ein und machten sich auf den Weg. Nicht lange nachdem sie aufgebrochen waren, konnten sie in der Ferne bereits das auf einer kleinen Anhöhe gelegene Kloster ausmachen.
Ein großes, schweres Tor mit schmiedeeisernen Beschlägen in einem Rundbogen stellte den Eingang zu dem massiv gebauten Steingebäude dar. Rechts und links des Tores befanden sich noch zwei ins Mauerwerk eingelassene Spitzbogenfenster, und direkt über dem Tor waren weitere Fenster angebracht – ein größeres, umgeben von vier kleineren. Anna fühlte, dass ihre Ankunft bereits bemerkt worden war. Doch erst auf mehrfaches Klopfen hin hörte sie, wie der Riegel innen mit einem lauten Quietschen beiseitegeschoben wurde.
»Was wollt ihr?«
Der Mann, der sich im Torbogen zeigte, trug eine Kutte, sah ansonsten jedoch nicht so aus, wie Anna sich einen Mönch vorgestellt hatte. Ihr Bild von einem Diener des Herrn auf Erden war eher das eines dünnen, von den Sorgen der Welt und der Menschen geplagten und niedergedrückten Männleins, das einzig und allein auf den letzten Tag seines Daseins wartete und die Belohnung seines Tuns herbeisehnte. Pater Anselm kam ihr in den Sinn, der Prediger, der sich schon seit Jahren um das geistliche Wohl der Menschen ihrer Heimatstadt kümmerte und an dieser Aufgabe fast körperlich zu zerbrechen schien. Er war klapperdürr, hatte ein spitz zulaufendes Gesicht und einen krummen Rücken. Die Haare waren ihm wie seine Zähne bereits vor Jahren fast vollständig ausgefallen, und seine Haut spannte sich durchsichtig über seinen Schädel sowie die dünnen Finger und Arme.
Doch der Mönch, der hier vor ihr stand, war das genaue Gegenteil von Vater Anselm. Groß, beleibt und den Kranz der Tonsur in vollem, dichtem Schwarz, hatte er abwartend beide Hände in die Hüften gestemmt.
»Verzeiht uns die Störung, ehrwürdiger Bruder!« Gawin neigte demütig den Kopf, während Anna die Knie beugte. »Meine Schwester und ich kommen von weit her. Wir haben keine Eltern mehr, wollen jedoch nicht betteln. Meine Schwester kann nähen und sticken, und ich bin in handwerklichen Dingen äußerst geschickt. Wir bitten Euch um Unterkunft, um unsere Kleidung richten zu können, bevor wir weiterziehen, um in Gottes Auftrag unser Glück zu finden.«
Der Mönch musterte sie kritisch.
»Wir haben Geld, um Tuch von Euch zu kaufen und hieraus Gewänder anzufertigen. Wenn Ihr es wünscht, auch für Euch und Eure Brüder«, fügte Anna hinzu.
Der Mönch sah
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