Die Duftnäherin
»Du hast recht. Wenn wir die anderen zusammenrufen und uns ebenfalls davonstehlen, würde das nur gegen uns sprechen und unsere Lage verschlechtern.«
»Du gibst dem Wirt Bescheid. Ich wecke die anderen und berichte ihnen, was geschehen ist.«
Anderlin ballte die Hände zu Fäusten. »Wir dürfen das Schwein nicht entkommen lassen.«
»Der ist doch längst über alle Berge.« Ihre Stimme klang traurig. »Aber so etwas hat der nicht zum ersten und auch nicht zum letzten Mal gemacht. Dennoch wird er seine Strafe noch bekommen.« Sie wollte zur Scheune hinübergehen, doch Anderlin hielt sie am Arm zurück.
»Du hast es gewusst, nicht wahr?«
Margrite zuckte mit den Schultern. »Ich habe geahnt, dass er gefährlich ist. Aber an so etwas habe ich nicht gedacht.«
Er hielt sie noch immer an ihrem Arm fest. »Woher?«
»Ich sah es an seinen Augen«, erklärte Margrite und löste sich von ihm. »Man sieht es immer an ihren Augen.«
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5 . Kapitel
Z ufrieden blickte Anna über die Wiesen. Kaum dass sie einen Schritt aus dem Wald herausgemacht hatte, erstreckte sich auch schon das hügelige Münsterland bis zum Horizont vor ihr. Es schien ihr wie ein Blick in die eigene Freiheit zu sein, aus der Dunkelheit des Waldes hinaus und in ein Tal voller saftig grüner Wiesen zu treten. Fernab des Weges schritt sie querfeldein Richtung Norden. Bald müsste sie einen Flusslauf ausmachen, wenn nicht, wüsste sie, dass sie falsch gelaufen war. Doch sie hatte keine Eile. Entgegen besserem Wissen hatte sie sich dennoch dazu entschieden, das Kloster Rehburg-Loccum aufzusuchen und ihren ursprünglichen Plan weiterzuverfolgen. Sie hatte schon so viel gelogen und dem Willen des Herrn zuwidergehandelt, dass es auf eine Unwahrheit mehr oder weniger nun auch nicht mehr ankam. Was genau sie den Zisterzienser-Mönchen sagen wollte, wusste sie nicht. Aber ihr würde schon noch etwas einfallen.
Wie von selbst trugen ihre Füße sie die Hügel hinauf und wieder hinab. In der Ferne erkannte sie eine kleine Gruppe von Menschen, die auf einem Feld ihre Arbeit verrichteten. Alles schien ihr so ruhig und harmonisch vonstattenzugehen. Wenn sie zu Hause hinter der Kate die wenige Saat ausgebracht oder das Gemüse geerntet hatte, war es ihrem Vater nie schnell genug gegangen. Nie war ein Wort des Dankes oder gar des Lobes über seine Lippen gekommen, ganz gleich wie geschickt und flink sie ihre Arbeit auch immer erledigt hatte. Und es waren harte Aufgaben gewesen, die sie neben den Verrichtungen im Haushalt manchmal erst dann zu Bett hatten gehen lassen, wenn die Dunkelheit schon seit Stunden hereingebrochen war. Aber was auch immer sie tat – es war nie gut, nie schnell, nie ausreichend genug. Sie fühlte sich erschöpft und krank von dem Moment an, an dem sie morgens die Augen aufschlug, bis sie sie abends wieder schloss. Dazwischen lagen lange Stunden der Qual und oft auch der Angst. An ein anderes Leben, wie sie es zu Lebzeiten ihrer Mutter noch gekannt hatte, konnte sie sich kaum mehr erinnern. Sie blieb kurz stehen und ließ, auf dem Plateau eines Hügels angekommen, abermals ihren Blick über die Landschaft schweifen. Ein Gefühl von Freiheit durchströmte sie; die schwachen Sonnenstrahlen waren wie eine warme, duftende Decke auf ihrer Haut. Für einen Moment schloss sie die Augen, streckte ihre Arme weit aus, reckte ihr Gesicht der Sonne entgegen und drehte sich im Kreis. Nie zuvor, solange sie zurückdenken konnte, hatte sie eine solche Kraft in sich gespürt. Am liebsten hätte sie laut geschrien vor Freude, hielt sich aber zurück. Ihr neues Leben lag vor ihr. Nichts würde sie aufhalten. Und dann meinte sie, in der Ferne endlich einen Fluss erkennen zu können. Lachend lief sie los, strauchelte und kullerte unsanft die Erhebung hinab. Regungslos blieb sie liegen, ohne sich verletzt zu haben, und sah in die Wolken. Ungewöhnlich langsam zogen sie vorüber, als wollten sie, dass Anna sie in aller Ruhe betrachten konnte. Ob sie schon immer so herrlich ausgesehen hatten, wenn sie über ihren Kopf hinweggezogen waren? Anna wusste es nicht. Nie hatte sie Zeit dazu gehabt, Wolken zu beobachten. Nie hätte sie sich getraut, im Gras zu liegen und ihren Gedanken nachzuhängen. Plötzlich hörte sie ein Geräusch. Gebannt lauschte sie. War da jemand ganz in ihrer Nähe und lief über dieselbe Wiese wie sie? Sie wagte nicht zu atmen oder gar aufzustehen. Ängstlich blickte sie den Hügel hinauf, von dem sie hinabgerollt war, und versuchte
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