Die Duftnäherin
Mörder genannt worden. Einen kurzen Moment lang hatte er überlegt, Egidius’ öffentliche Anprangerung für sich zu nutzen, indem er angab, den Ratsherrn im Streit wegen dessen Schandtat versehentlich zu Tode gebracht zu haben. Doch da war noch dieser Hundsfott Cornelius, Egidius’ Bruder, der in diesem Fall schon dafür sorgen würde, dass ihm die Worte im Mund herumgedreht werden würden. Nein, er konnte nicht riskieren, sich den Fragen des Rates zu stellen, wenn er nicht wollte, dass sein Hals über kurz oder lang in einer Schlinge landete.
Für Helme war klar, dass nun der Zeitpunkt gekommen war, aus der Stadt zu fliehen. Nur wohin? Die wenigen Münzen, die er bei seinen Streifzügen durch Köln in den letzten Tagen erbeutet hatte, würden nicht lange reichen. Und da war immer noch Anna, wegen der er eigentlich hierhergekommen war, die in all den Wochen aber noch von keiner Menschenseele gesehen worden war. Ihm wurde immer klarer, dass sie ihn in die Irre geführt hatte. Wenn er diese kleine Hure nur endlich zu fassen bekäme! Er würde sie zerquetschen wie eine Made. Mittlerweile war es ihm sogar gleichgültig, dass er damit auch seine Haupteinnahmequelle für immer zum Versiegen bringen würde. Er hatte sich nunmehr geschworen, Anna eines qualvollen Todes sterben zu lassen, und wenn es das Letzte wäre, was er in seinem Leben noch vollbringen würde. Seine ganze Aufmerksamkeit würde er darauf verwenden, sie zu finden und so lange zu quälen, bis er in ihren Augen sehen würde, was er am meisten liebte: die Erkenntnis, dass der Tod unmittelbar bevorstand. Wie sehr würde er diesen Moment genießen!
Die Wellen schlugen gleichmäßig gegen die Planken. Schon seit Tagen waren sie auf dem Schiff. Über Esthers Kratzern hatte sich Schorf gebildet, und an manchen Stellen löste sich dieser sogar bereits wieder ab. Ihr Körper stellte sich nach und nach selbst wieder her, nur die Wunden in ihrer Seele würden wohl niemals mehr heilen. Jede Nacht sah sie ihren Vater vor sich. Nicht wie sie ihn immer gekannt hatte – ruhig, unerschütterlich und gütig. Stets sah sie ihn nur in den letzten Augenblicken seines Lebens, in denen er sie mit der Klinge am Hals und in Erwartung dessen, was unweigerlich geschehen würde, angestarrt hatte, bevor sein Hals durchschnitten und sein Kopf nach hinten gekippt war. Esther war kalt. Selbst wenn sie starr an Deck saß und ihr die kräftige Sonne auf die Haut brannte, war ihr so kalt, dass sie den Überwurf fester um ihre Schultern schlang.
Sie hatte, seitdem sie auf dem Schiff wieder zu sich gekommen war, kaum gesprochen und spürte immer wieder Wylands sorgenvollen Blick auf sich ruhen, auch wenn sie ihn nicht ansah. Er hatte ihr zur Flucht verholfen, und sie fühlte sich ihm verbunden. Doch wohin sollte die Flucht gehen, wo enden? Alles hatte sich nach diesem schrecklichen Tag in Köln verändert. Ihr altes Leben gab es nicht mehr.
»Wir werden gleich anlegen.« Wyland war an ihre Seite getreten.
»Wo sind wir?«
»In der Nähe von Hoya. Wir müssen Proviant laden, bevor wir weiterfahren und das letzte Stück unserer Reise zurücklegen.«
»Wohin?«
»Ich werde dich nach Bremen bringen, Esther. Dort habe ich Bekannte, bei denen du unterkommen kannst.«
Sie nickte nur. Der Gedanke, fortan bei fremden Menschen zu leben, bereitete ihr Unbehagen. Doch sie hatte keine Angst davor, dafür hatte sie schon zu viel gesehen in ihrem jungen Leben.
»Werdet Ihr bei mir bleiben, dort in Bremen?«
Wyland spürte, wie die Frage an sein Herz rührte. »Nein, Esther, das kann ich nicht. Ich werde nach Köln zurückreisen und dafür sorgen, dass die Schuldigen für ihr Tun verurteilt werden. Bis auf einen.« Seine letzten Worte waren nicht mehr als ein Flüstern.
»Bis auf einen?«, wiederholte sie.
Seine Augen nahmen einen kalten Ausdruck an. »Den Mörder deines Vaters werde ich mir persönlich vornehmen. Und wenn ich seiner habhaft werde, wird er von mir nicht einmal die Gnade erfahren, die jeder zum Tode Verurteilte vom Henker gewährt bekommt, wenn er ihn mit einem einzigen Schlag ins Jenseits befördert.« Er wandte sich ab und ließ seinen Blick über die Landschaft gleiten, die langsam an ihnen vorbeizog.
»Danke«, hauchte Esther, die nicht wusste, was sie sonst darauf sagen sollte.
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38 . Kapitel
W ährend des gemeinsamen Abendessens hatte Anna nicht ohne Stolz das Kleid vorgeführt, das gerade erst fertig geworden war. Wobei sie die Besonderheit mit der
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