Die Duftnäherin
Wasser abspülen zu müssen. Als sie mit dem nassen Lappen zu ihrer Scham hinabglitt, überkam sie in Erinnerung an die letzte Nacht ein wohliger Schauer. Nichts war nun mehr wie zuvor, doch sie bereute es nicht. Sie hatten sich auch nicht der Blutschande schuldig gemacht, denn Gawin und sie waren in Wirklichkeit keine Geschwister. Allerdings müssten sie dies nun zumindest im Haus ihres Großvaters richtigstellen. Doch fürs Erste, so hatten sie beschlossen, bevor er gegangen war, sollte nach außen hin noch alles beim Alten bleiben. Zu viel ging derzeit in der Stadt vor, und sie wollten abwarten, bis sich die Umstände wieder beruhigt hatten. Margrite und Siegbert wussten eh Bescheid, und Jordan war tot. Und Esther, Anderlin, Binhildis und Hanno sowie die Bediensteten im Goossen-Haus waren ihnen wohlgesinnt und dürften, so ihre Überlegung, wohl kein Problem darstellen.
Als sie fertig angekleidet war, trat sie hinaus auf den Flur, wo sie auf Esther traf. Einen kurzen Moment wurde Anna unsicher, fragte sich, ob man ihr den Verlust ihrer Jungfräulichkeit womöglich ansehen konnte. Doch die Freundin umarmte sie wie sonst auch.
»Wie geht es dir heute Morgen? Hattest du wieder Alpträume in der Nacht?«
»Nein.« Esther schien beschwingt. »Heute Nacht nicht. Vielleicht musste ich erst erfahren, dass auch woanders schreckliche Dinge passieren, um zu begreifen, dass es nirgendwo auf dieser Welt vollkommene Sicherheit gibt.«
»Das ist wohl wahr, meine Esther«, meinte Anna und ging mit ihr gemeinsam die Treppe hinunter. Wie gern hätte sie der Freundin von der vergangenen Nacht erzählt, verwarf den Gedanken aber sofort wieder. »So guter Laune, wie wir beide heute sind, sollten wir ein ganz besonderes Gewand fertigen.«
»Ach ja, und was für eines?«
»Ich weiß noch nicht«, gab Anna zu. »Eines mit wunderbaren, kräftigen Farben, aus einem weich fließenden Stoff und mit reichen Verzierungen.« Sie reckte beide Arme zur Decke und lachte ausgelassen.
Esther musterte sie, während ein Lächeln ihre Lippen umspielte. »Was ist denn mir dir los? So kenne ich dich ja gar nicht.«
Anna stupste mit ihrem Zeigefinger auf Esthers Nase. »Gewöhn dich dran!« Wieder lachte sie, hob ihre Röcke an und lief vor der Freundin davon, die die Herausforderung ausgelassen annahm.
»Na, na, ihr rennt einen ja um!« Gertrud schnaubte entrüstet, konnte sich jedoch ein Schmunzeln nicht verkneifen. Sie hatte beobachtet, wie gut ihrem Herrn die Anwesenheit seiner Enkelin tat. Gertrud hatte schon für Annas Mutter gekocht, und Anna, die Katharina bis aufs Haar glich, nun im Hause zu haben bewirkte, dass auch sie sich wieder jung fühlte.
»Entschuldige, Gertrud!« Anna fasste sie an den Schultern, drehte sie einmal um die eigene Achse herum und gab ihr hastig einen Kuss auf die Wange.
Spätestens jetzt hätte Gertrud ihr ohnehin nicht mehr böse sein können, also schüttelte sie in gespieltem Ernst den Kopf, schmunzelte und machte sich daran, in der unteren Stube den Tisch für das Frühstück zu bereiten. In diesem Moment betraten Siegbert und Gawin den Raum. Ein Blick in ihre Gesichter verriet, dass etwas geschehen sein musste, und Annas gute Laune verflog sofort.
»Guten Morgen. Gibt es schlechte Nachrichten?«
Siegbert ließ sich auf einen der Stühle sinken. »Guten Morgen, ihr beiden.« Er bemühte sich, Anna und Esther ein Lächeln zu schenken, was ihm sichtlich nicht leichtfiel.
»Gestern Abend hat der Mob in Bremen gewütet. Gleich in aller Früh habe ich Nachricht davon erhalten und soeben schon Gawin davon berichtet. Nicht nur Jordan, sondern auch drei andere Meister unterschiedlicher Gewerke wurden ermordet.«
Sie setzten sich an den Tisch, Gawin direkt Anna gegenüber. Sie versuchte, in seinem Gesicht zu lesen. Die Vertrautheit der vergangenen Nacht schien sich in den Morgenstunden ins Nichts aufgelöst zu haben. Enttäuscht wandte sie sich an Siegbert.
»Wer noch?«
Ihr Großvater hob kurz die Schultern. »Drei weitere Männer wurden erschlagen in ihren Häusern und Werkstätten aufgefunden. Ein Gerber, ein Plattner und ein Schuhmacher. Gebe der Herr, dass nicht noch mehr Leichen auftauchen!«
»Wer, glaubst du, steckt dahinter?« Diesmal war es Gawin, der Siegbert um eine Antwort bat.
»Der Vogt geht davon aus, dass es Diebe waren, die keine Zeugen für ihre feige Tat zurücklassen wollten. Doch ich glaube das nicht.« Er faltete bedächtig die Hände.
»Sondern?«
»Du selbst warst in der Stunde, als
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