Die Duftnäherin
»Es ist dein Kleid, ich habe es für dich gefertigt. Wann immer du es trägst, denke an mich und denke daran …« Sie fasste sich ein Herz und fügte noch hinzu: »… dass mir noch nie zuvor ein solch großzügiger und warmherziger Mensch begegnet ist wie du. Es gibt keine Worte, die meine Dankbarkeit ausdrücken können. Doch dieses Kleid kann es.«
Margrite spürte eine Woge des Glücks in sich aufsteigen. Dieses Mädchen war viel zu schön, um ihre Tochter zu sein. Aber sie fühlte in ihrem Herzen, dass es in der kurzen Zeit ihres Zusammenseins genau das für sie geworden war: eine Tochter.
»Ich werde auf dich aufpassen, Anna. Dir soll nichts geschehen, solange ich da bin.« Ihr Gesicht wurde ernst. Sie zögerte kurz auszusprechen, was ihr schon seit Tagen durch den Kopf ging. »Du bist auf der Flucht, nicht wahr?«
Anna riss erschrocken die Augen auf. Eben noch überglücklich, war sie nun wie erstarrt. Woher konnte Margrite das wissen? Verzweifelt suchte sie nach einer unverfänglichen Antwort, einer Erklärung, doch ihr Kopf schien plötzlich wie leer gefegt. Und so nickte sie schließlich stumm.
»Ich glaube, ich bin deinem Vater begegnet.«
Sofort trat die Jüngere erschreckt einen Schritt zurück. »Meinem Vater?«, stammelte sie entsetzt.
Die Freundin nickte. »Es war gut, dass du vor ihm davongelaufen bist.«
Annas Herz raste. »Aber woher weißt du …?«
»Hilfst du mir, die Schnüre zu lösen?« Sie deutete auf ihren Rücken. »Dieses Kleid hebe ich mir für einen ganz besonderen Anlass auf.«
Anna tat wie ihr geheißen. Verwirrt zog und zerrte sie die Bänder aus den Ösen.
»Weißt du, ich habe von Anfang an das Gefühl gehabt, dich von irgendwoher zu kennen. Und jetzt weiß ich auch, warum. Dein Vater hat dich uns so genau beschrieben, dass ich meinte, dich schon einmal gesehen zu haben, als wir uns die ersten Male begegnet sind. Wir sollten uns einen Würzwein aufwärmen und dann in Ruhe über alles sprechen«, nahm Margrite das Gespräch wieder auf. Sie blickte über ihre Schulter, doch Anna sah nicht auf.
Als sie die Hände sinken ließ, drehte Margrite sich zu ihr um. Vorsichtig hob sie mit ihrem Finger Annas Kinn, die ihre Augenlider niedergeschlagen hatte. »Mach dir keine Sorgen, mein Kind. Dir wird nichts geschehen. Hier wird er dich niemals finden.«
Anna hob den Blick. Ihre Augen waren mit Tränen gefüllt, und ihr Kinn zitterte.
»Ist er hier in Bremen?« Ihre Stimme war nicht mehr als ein Flüstern.
»Nein!«, sagte Margrite sofort mit bestimmter Stimme und lächelte. »Ich habe ihn in die entgegengesetzte Richtung geschickt.« Sie legte Anna ihren Arm um die Schultern. »Komm, wir sollten uns setzen. Dann werde ich dir alles erzählen.«
Mit ruhiger Stimme beschrieb Margrite den Mann, den sie für Annas Vater hielt, und berichtete danach von dem, was sich in dem Gasthaus ereignet hatte, während Anna schweigend den Becher mit Würzwein zwischen ihren Händen drehte. Es erschreckte die Seifensiederin, mit welcher Ruhe Anna aufnahm, dass ihr Vater eine Frau getötet haben sollte.
»Wie bist du darauf gekommen, dass ich seine Tochter bin?«
»Wie ich schon sagte, er hat uns dein Aussehen beschrieben. Die hellen Haare und das madonnengleiche Gesicht. Dein äußeres Erscheinungsbild ist sehr auffällig.«
Anna nickte stumm.
»Wahrscheinlich trägst du dein Haar deshalb auch immer unter einem Tuch versteckt, nicht wahr?«
»Ich bin das Ebenbild meiner Mutter«, erklärte Anna. »Jeder sagt das.«
»Ist sie gestorben?«
Wieder ein stummes Nicken als Antwort.
Margrite wagte nicht, nach der Ursache für den Tod der Mutter zu fragen. Zu groß war die Angst, dass der Vater auch hier seine Hände im Spiel gehabt haben und sie bei Anna mit ihrer Nachfrage eine niemals ganz verheilende Wunde wieder aufreißen könnte.
»Es tut mir leid, dass ich dich belogen habe«, sagte Anna beschämt.
Die Hauswirtin griff nach ihrer Hand. »Das hätte ich an deiner Stelle auch getan.«
Einen Moment schwiegen sie.
»Darf ich dich noch etwas fragen?«, nahm Margrite das Gespräch wieder auf.
»Sicher.«
»Gawin. Ist er wirklich dein Bruder? Dein Vater hat ihn uns gegenüber nicht erwähnt.«
Anna zuckte zusammen. Margrite hatte also auch ihre zweite Lüge durchschaut. Und obwohl ihr ihr Gefühl sagte, dass sie Margrite vertrauen konnte, ergriff sie eine lähmende Angst.
»Er ist nicht wirklich mein Bruder«, gab sie schließlich zu.
»Das dachte ich mir schon.« Margrite spürte,
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