Die Duftnäherin
allein in seiner Kammer gelegen und auf den Schlaf gewartet hatte, war etwas geschehen, was er selbst nicht mehr für möglich gehalten hatte: Wie von selbst war ihm ein Gebet über die Lippen gekommen. Ein Gespräch mit dem Herrn, ohne Wut oder Angst, ein kurzer Dank für die Geschehnisse der letzten Wochen und die Menschen, die er in sein Leben gesandt hatte. Wie lange war es doch her, dass er sich vom Herrn abgewandt und spöttisch über die gelacht hatte, deren Dasein von ihrem unerschütterlichen Glauben an einen gütigen und gerechten Gott bestimmt wurde. Aber nun war alles anders geworden.
Heute würde er nicht zum Hafen gehen, sondern Gawin bei der Arbeit helfen. Der Rat hatte neue Stühle bestellt, und er hatte Gawin versprochen, ihm und seinem Meister dabei zu helfen, diese schneller fertigstellen zu können. Zwar bekam Hanno von dem alten Jordan dafür weniger Geld, als er durch das Abladen der Schiffe verdiente. Aber es war ja nur für wenige Tage, und sein Rücken würde ihm die kurze Ruhepause sicher danken. Gawin war jünger als er, etwa vier bis fünf Jahre. Aber genau wie Hanno hatte auch er keine Eltern mehr und mühte sich nun darum, für sich und seine Schwester zu sorgen. In den letzten Tagen hatten sie jeden Abend miteinander verbracht, geredet und sich gegenseitig das Gefühl gegeben, füreinander so etwas wie eine Familie zu sein. Meist waren auch Margrite und Anderlin dabei gewesen. Binhildis hatte dagegen gestern nach einem Streit das Haus verlassen und war heute Morgen noch einmal gekommen, um ihre restlichen Sachen zu holen. Sie wollte fortan lieber in einem Gasthaus unterkommen. Zumindest hatte sie selbst es ein Gasthaus genannt. Dass es in Wirklichkeit ein Hurenhaus war, wusste jeder von ihnen, doch das sprach nicht einmal Margrite aus. Wie immer war es bei der Auseinandersetzung zwischen Binhildis und der Hauswirtin ums Geld gegangen, das Erstere nur ungenügend beibrachte, obwohl sie stets als Erste am Tisch saß und nach Essbarem verlangte. Margrite hatte es schließlich gereicht. Den Vorwurf, dass Binhildis es nirgendwo so einfach haben würde wie bei ihr, wollte diese nicht hinnehmen und brüllte die Ältere an, dass sie es ganz im Gegenteil an jedem anderen Ort besser treffen würde als bei ihr. Danach hatte sie die Haustür hinter sich zugeworfen und war über Nacht verschwunden. Margrites sorgenvollen Gesichtsausdruck deutete die Hübschlerin, als sie am nächsten Tag ihre Sachen holte und Margrite mitteilte, fortan nicht mehr bei ihr wohnen zu wollen, durchaus als kleinen Sieg. Seitdem war das ungute Gefühl, das Hanno sich mit Margrite in dem sicheren Glauben teilte, dass Binhildis sich nicht ganz im Klaren darüber war, was ihr in ihrer künftigen Bleibe abverlangt werden würde, nicht mehr von Hanno gewichen. Und selbst jetzt, wo er gemeinsam mit Gawin auf dem Weg zur Zimmerei war, plagte ihn die Sorge um Binhildis’ Wohlergehen.
»Du bist so still«, stellte Gawin fest.
»Hm. Ich muss die ganze Zeit an Binhildis denken. Ob sie wohl wiederkommt?«
»Wer weiß? Vielleicht findet sie dort ja das große Glück.«
»Glaubst du das denn?«
»Keine Ahnung.
Sie
schien es jedenfalls zu glauben.«
Danach herrschte Schweigen zwischen den beiden, bis sie die Tür zur Zimmerei öffneten und schon beim Eintreten das laute Schimpfen des alten Jordan hörten.
»Wir sind da!«, rief Gawin und wiederholte dies mehrfach, während er in den hinteren Teil der Werkstatt ging, wo der Meister noch immer vor sich hin wetterte.
»Guten Morgen, Meister! Was ist denn geschehen?«
»Ach, dieses Dreckspack! Die Gaststube haben sie im Wahn zerschlagen. Und wer soll das alles wieder reparieren? Wie immer der alte Jordan. Mit mir können sie’s ja machen. Aber diesmal werden sie mich teuer dafür bezahlen müssen.«
»Wer hat welche Gaststube zerschlagen?«, fragte Gawin genauer nach.
»Na, Pöbelvolk eben. Was weiß denn ich?«
»Sollen wir trotzdem mit der Fertigung der Stühle fortfahren?«
Jordan sah überrascht aus. »Wir? Wer ist wir?«
»Aber Meister, der Hanno und ich. Ihr habt ihn für einige Tage eingestellt, damit er uns bei den Stühlen helfen kann. Wisst Ihr das denn nicht mehr?«
»Äh, aber ja, natürlich. Hanno.« Der Zimmermann nickte mehrmals mit dem Kopf.
Gawin betrachtete ihn aufmerksam. Schon mehrmals war ihm aufgefallen, dass der Meister Dinge vergaß, die er nur kurz zuvor gesagt hatte. Anfangs hatte der Lehrjunge dies darauf zurückgeführt, dass der Ältere mit
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