Die Dunkelgräfin: Das Geheimnis um die Tochter Marie Antoinettes (German Edition)
einen flächendeckenden Krieg alle Unterlagen zerstört. Haben die Ereignisse deshalb nicht stattgefunden, weil sie nicht auf Papier dokumentiert sind?
In der Zeit der Revolutionskriege, in der die Geschehnisse um Marie Thérèse de Bourbon stattfanden, wurden in vielen Briefen wichtige Informationen zwischen den Zeilen mit unsichtbarer Tinte oder Zitronensaft notiert. Königin Maria Karolina schrieb während der napoleonischen Kriege auch in Privatbriefen politische Nachrichten nur mit Zitronensaft oder als Zahlencode. Nach dem Lesen wurden die Briefe durch den Empfänger vernichtet. Ganz wichtige Nachrichten wurden nur mündlich per Boten weitergegeben.
Wenn man sich die verworrene politische und militärische Lage 1795 am Oberrhein ansieht, in der Spione und Agenten aller politischen Richtungen im Auftrag von Königen, Ministern und Botschaftern ihr Spiel trieben, dann fragt man sich zu Recht, welchen Wert Dokumente damals überhaupt hatten. Da wurde mit Codenamen gearbeitet, wurden Pässe ganz offiziell auf falsche Namen ausgestellt. Für Geld bekam man jede Information, wobei man allerdings nie wissen konnte, ob der Agent nicht auch für die andere Seite tätig war. Menschen tauchten für Jahre unter einem Pseudonym unter, wie Louis Philippe, ab 1830 französischer König, der von Juni 1794 bis Februar 1795 unter dem Pseudonym Corby in Bremgarten im Aargau unterkam. 1 Manchmal, wie bei der Vertauschung Madame Royales, hatten alle Beteiligten ein elementares Interesse an der Geheimhaltung und auch die Möglichkeit, diese durchzuhalten. Wie wir später noch sehen werden, galten anstelle von Briefen mit Unterschrift und Siegel der Eid und das Schwören auf das Kreuz. Diese Art der Geheimhaltung hinterlässt keine schriftlichen Zeugnisse, die wir heutzutage auswerten könnten.
All das, was in den kommenden Kapiteln beschrieben wird, konnte natürlich nicht ganz verborgen bleiben. Es gab überall Augenzeugen, die sich gewundert haben über ungewöhnliche Dinge in ihrer nächsten Umgebung. Das wurde weitererzählt, seltener in Tagebüchern oder Memoiren festgehalten. So entstand eine mündliche Tradition, eine historische Quelle, die als Oral History auf der Erzählung von Zeitzeugen basiert und inzwischen auch als Methode in der Geschichtswissenschaft anerkannt ist.
Wenn der Historiker sich dieser mündlichen Überlieferung bedient, muss er allerdings immer sorgfältig prüfen, inwieweit die persönlichen Umstände des Zeitzeugen den Wahrheitsgehalt seiner Beobachtungen beeinflussen. War er zu der Zeit tatsächlich vor Ort? Was kann er gesehen haben? Welchen Bildungsstand hatte er? Gibt es andere Zeitzeugen, die ähnliche Beobachtungen gemacht haben? Auf diese Weise kann der Historiker Indizien sammeln, die am Ende ein Bild ergeben, das der Wahrheit gerade in Zeiten unvollständiger schriftlicher Dokumentation, die oft auch nicht die ganze Wahrheit ergibt, sehr nahe kommt.
Der Gasthof »Zum Raben«, wo die Vertauschung der Prinzessinnen wohl stattgefunden hat (siehe Seite 154 ff.), lag nahe der Rheinbrücke innerhalb der Festung Hüningen. Auf der anderen Seite des Rheins lag die Schweizer Stadt Basel mit ihren 16 000 Einwohnern, für Österreich und Frankreich gleichermaßen neutraler Boden.
Ein kurzer Rückblick: Seit der Deklaration von Pillnitz, in der Kaiser Leopold II. und König Friedrich Wilhelm II. von Preußen am 17. August 1791 eine Intervention zugunsten »einer den Rechten des (französischen) Souveräns und den Interessen der Nation gleichermaßen angemessenen monarchischen Regierung« beschlossen hatten, war die Gegend beiderseits des Rheins eine Unruhezone ersten Ranges. 2
Auf der rechten Seite des Rheins hatten sich seit dem Sturm auf die Bastille 1789 Scharen von französischen Emigranten niedergelassen, die Schätzungen liegen bei etwa 150 000 bis 160 000 Personen, davon etwa 50 Prozent Bürger aus dem dritten Stand sowie 40 Prozent Adlige und Kleriker, die den Eid auf die Verfassung nicht hatten leisten wollen und deshalb flüchten mussten. 3
Aus einer Art Ehrengarde für die königlichen Prinzen hatten sich 1791/92 kampfstarke Truppen gebildet; die Einheiten von Rohan und Mirabeau-Tonneau lagen bei Ettenheim, die des Prinzen Condé um Worms herum. Eine Armee der königlichen Prinzen war bei Koblenz unter Führung von Marschall Broglie aufgestellt worden. Insgesamt verfügten diese Truppen über etwa 24 000 Mann Infanterie und Kavallerie. 4
Durch die oben genannte Deklaration fühlte
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