Die Dunkelheit in den Bergen
wirklich jeder und jede sie mindestens einmal gesehen und gegrüßt hatte.
60 Am Dienstag begann im Verhörraum der Strafanstalt Sennhof die Befragung des Verdächtigen. Es war ein gemauerter kahler Raum am Ende des langen Ganges, der an den Zellen vorbeiführte. Der Boden war mit grauen Schieferplatten belegt. An den Wänden waren Ringe eingemauert, von der Decke hingen eiserne Haken. Anwesend waren der kantonale Verhörrichter Baron von Mont, seine Weisheit der Herr Amtsstadtrichter Steffan von Pestalozzi als Beisitzer, der Aktuar des Kantons-Kriminalgerichts Ratsherr Andreas Otto und der Delinquent Franziskus, Franzisk, Franzesg oder Franz Rimmel.
Für die Kommission standen ein paar Stühle bereit. Unter dem vergitterten kleinen Fenster saß der Aktuar an einem einfachen Holztisch, Papierbogen, Federn, Federmesser und Tintenfass vor sich. Am äußeren Rand seines Tisches lagen die Axt, der Wanderstock und das Seidenkäppi.
Rimmel stand vor der Kommission, den Blick auf den Boden gesenkt.
Der Aktuar begann das Protokoll mit einer Personenbeschreibung, welche ihm vom Verhörrichter diktiert wurde: Franziskus Rimmel ist etwa fünfzig Jahre alt, von sehr kleiner, magerer Statur, hat ein ovales, eingefallenes braunes Gesicht, blaue, ziemlich lebhafte Augen, eine große, etwas gebogene spitzige Nase, einen mittleren, eher größeren Mund, ein breites Kinn, ziemlich hohe Stirn, dunkelbraune glatte Haare, oben ein wenig kahlköpfig, die Augen liegen ihm tief, etwas über dem linken Mundwinkel hat er eine mittelgroße Warze, ziemlich große, dem Anschein nach geschwollene Hände, ganz kurze Zähne, besonders oben beinahe keine. Er trägt weißleinene lange Züchtlingshosen, auf beiden Seiten mit beinernen Knöpfen besetzt, eine weißleinene kurze Jacke, vorne mit zwei Reihen beinerner Knöpfe und zuvorderst an den Ärmeln mit einem gleichen Knopf besetzt, spitzige, stark ausgeschnittene Bänderschuhe und zerrissene, etwas gebleichte Strümpfe mit kleinen, ziemlich weit auseinanderliegenden Streifen. Rimmel spricht Deutsch in hiesigem und im Tiroler Dialekt und hat keine besonderen Kennzeichen, als dass der Kopf die meiste Zeit etwas herabhängt und sich seine Augen beim Sprechen auf krankhafte Weise nach links oben verdrehen, was wohl als Anzeichen einer nervösen Liederlichkeit gedeutet werden muss.
Der Verhörrichter befragte ihn darauf nach seiner Herkunft und Verwandtschaft. Rimmel gab bereitwillig Auskunft. Er sprach dabei langsam und leise, geriet oft ins Stocken, suchte nach Worten, als suchte er nach dem Grund für seine Lage, für das Geschehene. Er bestätigte in seinen Aussagen, was von anderer Seite über ihn erzählt wurde.
Rimmel kam aus dem Dorf Untergrünau im Lechtal und war der Sohn des Maurermeisters Ambros Rimmel und der Christina Rimmel, geborene Falger von Stanzach im Lechtal. Als Kind zog er mit den Eltern nach Häselgehr, später nach Reutte. Rimmel war katholisch erzogen worden und lernte in der Dorfschule leidlich lesen und schreiben. Seit er im Tirol das Uhrmacherhandwerk gelernt, war er auf Wanderschaft und nahm dabei jede Arbeit an, die ihm angeboten wurde. Er bereiste das Tirol, den Vorarlberg, Graubünden und das Veltlin. Am längsten hatte er sich in Graubünden aufgehalten. Seine Eltern waren vor zwölf Jahren verstorben, beide fast zur gleichen Zeit. Rimmel hatte eine Bündnerin aus Lenz geheiratet, seine Frau aber schon lange Zeit nicht mehr gesehen. Im letzten Jahr hatte sich Rimmel die ganze Zeit in der Gegend zwischen Reichenau und Ilanz, im Safiental, Valsertal, im Lugnez und im Domleschg aufgehalten. Er hatte bei Bauern ausgeholfen und auf manchem Hof und auf mancher Alp etwas repariert. Beim Müller in der Weihermühle war er ein häufiger Gast gewesen. Auf dem Dachboden der Mühle hatte er einen Koffer mit Kleidern, den er dauerhaft dort deponieren durfte. Rimmel genoss das Vertrauen des Müllers, schlief oft bei ihm und half manchmal in der Mühle oder im Stall aus. In letzter Zeit hatte sich das Verhältnis zwischen ihnen jedoch etwas getrübt.
Woran lag das?, wollte der Verhörrichter wissen.
Der Müller habe ihm vorgeworfen, dass Rimmel seinen Hund nach Versam entführt habe. Er aber, erzählte er, habe den Hund nur ausgeliehen, zum Treiben vom Vieh, sagte er, und er habe ihn auch zurückbringen wollen. Der Müller sei kein schlechter Mensch gewesen, ein fröhlicher Mensch sogar, ein lustiges Wort habe er immer parat gehabt. In letzter Zeit aber, sagte Rimmel, habe er
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