Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Amanda
um ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Zumindest war ich gewillt, es zu versuchen.
Als ich Conrad das so sagte, da lachte er und meinte: »Dann können wir ja unsere Sitzungen einstellen. Mehr als dass ein Mensch bei sich selber ankommt, kann die Psychoanalyse nicht erreichen.«
Das machte mich traurig, denn ich hatte mich an unser Seelensezieren gewöhnt, ja, der Gedanke, dass er mich nicht mehr regelmäßig besuchen würde, war mir, wenn ich ehrlich war, vollkommen unerträglich.
Ich hätte nie gedacht, dass ein Mann in mir jemals eine solche Leidenschaft entfachen könnte. Wie ein Steppenbrand war Conrad über mich gekommen und meine Sehnsucht nach ihm war verzehrend wie die Flammen. Er konnte doch jetzt nicht einfach wegbleiben!
»Aber die Mutter-Kind-Dyade … die … äh … Libido … das Ich … das Es … das Über-Ich … es gibt nochso viel, was in mir schlummert und noch nicht diskutiert wurde!«
Er lachte und meinte, dafür würde ja dann »ein ganzes Eheleben« hindurch noch Zeit sein, und ging auf meinen Einwurf nur teilweise ein, weshalb ich ihn »Erpresser« schimpfte.
»Was deine Mutter betrifft, Amanda, bist du mit ihr nun nicht ausgesöhnt?«
Ich dachte daran, wie sie sich auf Burg Przytulek in das tödliche Feuer gestürzt hatte.
»Doch«, sagte ich, »denn sie hat sich für mich geopfert … weil sie mich mehr liebte als ihr Leben.«
Nach unserer Rückkehr aus den Karpaten lebten Friedrich und ich weiter in der Brüderstraße, wo mir der Großvater nun Estelles Zimmer ganz überlassen hatte. Er suchte sich einige Erinnerungsstücke an sie heraus und baute ihr im Salon einen Schrein mit Devotionalien zum stillen Gedenken. Es kam ihn hart an, dass es keine Leiche gab, die er würdevoll bestatten konnte, und er grübelte lange darüber nach, ob man ihr nicht wenigstens einen Gedenkstein setzen sollte.
»Den hat sie sich schon selber gesetzt«, machte ich schließlich allen Spekulationen in dieser Richtung ein Ende und legte ihm die dunkle Chronik der Vanderborgs auf den Schoß, als er eines Abends wieder davon anfing. Vibrierend vor Erregung begann er darin zu lesen.
»Warum hast du das getan?«, fragte mich Friedrich unwirsch, als er den Großvater darüber in Tränen aufgelöst vorfand. »Es wird ihn zerreißen, er gibt sich doch gewiss die Schuld an Estelles ganzem Unglück.«
Ich schüttelte den Kopf.
»Er ist ein alter Mann, Friedrich, keiner weiß, wie lange er noch leben wird. Er hat ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren. Wenn er versteht, dass Estelle in Wirklichkeit schon lange tot ist, weil sie damals bei seinem Experiment in den Karpaten gestorben ist, dann wird er erkennen, dass nicht sie es war, die so unglaublich viel leiden musste, sondern eine fremde Frau: Eleonore, die Estelles Körper besetzt hielt, bis er nun auf der Burg von Przytulek in Flammen aufging. Ohne Schmerzen. Das zu wissen, wird es ihm leichter machen, Abschied von ihr zu nehmen.«
Friedrich war nicht zu überzeugen.
»Er wird sich die Schuld an ihrem Tod geben und er wird darüber zugrunde gehen.«
Aber Friedrich hatte sich getäuscht. Sein Vater war zäher als gedacht, und tatsächlich fand er in der Familienchronik viele liebevolle Worte über sich, die ihm Estelle noch einmal ganz nahe brachten und ihm halfen, seine Schuldgefühle zu verdrängen. Und er wäre nicht der kreative Geist und rastlose Erfinder faszinierender Illusionsmaschinen gewesen, wenn er sich nicht auch über sie eine zauberhafte Illusion zurechtgezimmert hätte, in der sie als geheimnisvolle Vampirschönheit ein erfülltes ewiges Leben hatte.
Für mich hatte das den Vorteil, dass ich mich ihm gegenüber nicht mehr erklären musste. Er akzeptierte, dass ich nachts das Haus mit Friedrich verließ, und nahm tagsüber Rücksicht auf unsere Müdigkeit und Lichtempfindlichkeit. Allerdings vermied er es, über unsere Ernährung zu sprechen. Das war nicht nur taktvoll, sondern auch für das Zusammenleben das Beste, denn so brachte er weder uns noch sich in die Verlegenheit, eine moralische Debatte darüber führen zu müssen. Gelegentlich überlegte ich allerdings,ob es nicht doch sinnvoll wäre, mit ihm das Thema zu diskutieren, denn ich fragte mich, ob er als Erfinder nicht vielleicht in der Lage wäre, einen Stoff zu entwickeln, der alle Eigenschaften menschlichen Blutes aufwies und uns ernährte, ohne dass wir dafür Menschen töten mussten. Aber als ich mit Friedrich über diese Hoffnung sprach, da meinte er, dass
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