Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Amanda
Piscator. Heartfield war mit seinen bissigen Fotokollagenoft auf den Titelblättern der AIZ , der Arbeiter-Illustrierten-Zeitung , zu sehen, die sich zu einem wichtigen Organ der Arbeiterbewegung entwickelte. Friedrich brachte sie zum Leidwesen seines Vaters regelmäßig mit, und es entbrannten nicht selten heftige Diskussionen deswegen, bei denen ich mich aber meistens auf die Seite von Friedrich schlug. Der Großvater schien mir doch gar zu konservativ zu sein. Ich fand es gut, dass Arbeiterfotografen das Wohnungselend in den Mietskasernen dokumentierten, auch wenn sie damit in ein Wespennest stachen. Anders würden diese Zustände sich ja nicht ändern. Es wurde so viel gebaut in Berlin, Filmpaläste, Revuetheater, Kaufhäuser – warum nicht auch anständige Wohnungen für Arbeiterfamilien?
»Gut, dass wenigstens die Pressezensur abgeschafft wurde«, meinte Friedrich. »So werden endlich diese Dinge öffentlich gemacht und niemand kann sie wie im Kaiserreich einfach unter den Tisch kehren.«
Die Presse- und Meinungsfreiheit ließ aber nicht nur den Blätterwald anwachsen, sondern auch viele kleine private Theater und Kabaretts aus dem Boden der Hauptstadt sprießen, welche respektlos die Weimarer Regierung aufs Korn nahmen und in provokativen Theaterkollektiven experimentierten.
Friedrich schleppte mich und Lenz häufig in diese Theater und es waren stets faszinierende Erlebnisse. Auch wenn ich bei manchem Theaterexperiment hinterher eher ratlos war. Auf jeden Fall fand ich es gut, dass auch das Leben einfacher Menschen auf die Bühne gebracht wurde und sich viele Künstler mit den Arbeitern solidarisierten. Von der Politik verstand ich nicht genug, aber dass hier Unterstützung nottat, begriff ich auch so.Ansonsten war ich kein Kind von Traurigkeit. Die lange Zeit in der Anstalt hatte mich so komplett isoliert, dass ich nun einen regelrechten Lebenshunger entwickelte, und obwohl Conrad das mitunter etwas unheimlich zu sein schien, war er bereit, sich mit mir in das Berliner Nachtleben zu stürzen.
Wir suchten Tanzlokale auf, in denen amerikanische Jazzmusik gespielt wurde, und tanzten Charleston und Shimmy unter ganzem Körpereinsatz. Zwar nicht ganz so frivol wie die jungen Damen mit Bubikopf in ihren kurzen Hängerkleidchen, aber doch mit kräftigem Schwingen der Hüften und ordentlichem Gewackel des Hinterteils.
Es war unglaublich lustig, und wenn ich erhitzt Arm in Arm mit Conrad durch die Nacht nach Hause ging, lachten wir fast den ganzen Weg über, und nur selten kam mir dabei der Gedanke, dass ich mal ein wenig an ihm knabbern könnte, um mir ein Schlückchen Blut von ihm zu gönnen.
»Du wirst auch das noch in den Griff kriegen«, meinte Friedrich zuversichtlich, als ich ihm bei einem unserer Streifzüge davon berichtete. »Irgendwann ist deine Liebe zu ihm so groß, dass sich das komplett von selbst erledigt.«
Ich seufzte. »Schön wäre es, denn wenn ich ehrlich bin, könnte ich mir inzwischen ein Leben mit Conrad schon ganz gut vorstellen …«
»Du meinst, du willst ihn heiraten?«
Ich zuckte die Schultern. »Vielleicht … warum auch nicht?«
Friedrich lachte.
»Ja, warum nicht!«
Er gab mir ein Zeichen und wir stürzten uns gemeinsam auf einen konservativen Abgeordneten, den wir schon länger auf unserem Speiseplan stehen hatten.
Auf dem Weg zurück in die Brüderstraße torkelten uns feine Herrschaften mit spitzem weiß-beigem Schuhwerk über den Weg, die offensichtlich stockbetrunken von einem Tanzvergnügen kamen und lallend die Melodien mitsangen, die auch jetzt noch in voller Lautstärke aus den offenen Fenstern der Mietshäuser schallten. Eine immerwährende Geräuschkulisse, seit die Zahl der Radiogeräte sprunghaft angewachsen war, weil man sich den günstigen Volksempfänger leisten konnte. Überhaupt nahmen die Berliner die Schlager aus den neuesten Revuen in Besitz, als wären es alte Gassenhauer, und auch ich trällerte sie vergnügt mit. Was Conrad wiederum sehr amüsierte, und auch der Großvater hörte mir gerne zu
Was kann der Sigismund dafür, dass er so schön ist … Am Sonntag will mein Süßer mit mir segeln gehen … Ausgerechnet Bananen …
»Du hast eine schöne Stimme«, meinte er oft stolz, und Conrad fand, dass es »zumindest sehr charmant« klang, wenn ich sang, und ergänzte: »Aber zugegebenermaßen verstehe ich außer von Walzern nicht viel von Musik.«
Es spielte sich neuerdings viel auf den Straßen ab. Politische Gruppen hielten überall
Weitere Kostenlose Bücher