Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Amanda
unauffindbar für Klara und Friedrich begraben.
Ich nahm das kleine nackte und steif gefrorene Wesen auf, streichelte die eisigen Wangen und stellte fest, dass es ebenfalls ein Junge war.
»Er soll auch einen Namen haben«, sagte ich mit Tränen in den Augen zu Klara. »Und wir werden ihn auf dem Gut beerdigen. In aller Stille. Als eine Totgeburt. Außer uns soll niemand wissen, was wirklich geschah. Es würde ohnehin keiner verstehen, der es nicht erlebt hat.«
Klara nickte, und so nannten wir den zweiten Zwilling Wolfgang und ließen in den schlichten Grabstein einmeißeln:
Du gingst, bevor du da warst. 11. 12. 1924
Blankensee, im Januar 1925
Die Birken tragen Trauer, der See hat eine Gänsehaut, die Zeit ist dunkel und schwer.
Ein junges Leben hat den Kampf mit der Welt aufgenommen, während ein zweites schon verloschen ist, ehe es brennen durfte.
Von meinen Zwillingen, die am 11. 12. 1924 geboren wurden, hat nur Lysander bis heute überlebt. Wolfgang starb bei der Geburt und liegt auf Blankensee begraben.
Mein Schmerz ist ohne Worte.
Amanda
A
nfang Januar eröffnete mir Klara, dass sie wieder nach Berlin müsste, wenn sie ihre Stelle bei der Gewerkschaft nicht verlieren wollte, und auch Friedrich zog eszurück in die Hauptstadt. Mich hatte die schwere Geburt ausgezehrt und die tragischen Ereignisse hatten mich viel Lebensenergie gekostet. So war es auch für mich an der Zeit, mich mit frischer Nahrung zu versorgen. Auf keinen Fall wollte ich alleine mit dem Säugling auf Blankensee zurückbleiben. Dazu war meine Furcht vor Conrad zu groß. In der Brüderstraße würde ich mich sicherer fühlen, denn dort war Friedrich bei mir.
So schlossen wir denn das Gutshaus und fuhren zurück nach Berlin, wo mich Tante Gertrud sofort mit ungebetenen Besuchen belagerte, um Lysander zu begutachten.
»Ganz der Vater«, meinte sie zu meinem Leidwesen und fragte natürlich sofort indiskret: »Wo steckt Conrad denn eigentlich?« Weil mir nichts anderes einfiel, erfand ich einen Forschungsaufenthalt im Ausland, in der Schweiz, wo er doch schon am Burghölzli, einer bekannten Nervenheilanstalt, gearbeitet hätte.
Sie nahm es gleich zum Anlass, um nach meinem »werten Befinden« zu fragen, worauf ich relativ unfreundlich antwortete: »Es geht mir gut, Tante Gertrud. Keine Anzeichen von manisch-depressivem Irresein.«
Worauf sie schnippisch meinte: »Man wird ja wohl mal fragen dürfen.« Sie ließ ein voluminöses Paket mit Babysachen zurück, und als ich es öffnete, war ich mir sicher, dass darunter auch viele abgelegte Stücke von Wilhelms Sohn Alfred waren. Geizknochen!
Conrad blieb verschwunden, und da ich mich nach ein paar nächtlichen Streifzügen mit Friedrich zumindest körperlich wieder gut erholt hatte und mir die Decke auf den Kopf fiel, besorgte Klara mir eine Arbeit im Gewerkschaftsbüro.
»Du musst hier raus, sonst wirst du melancholisch. Wenndu die Nachtschicht übernimmst, kann ich in der Zeit auf Lysander aufpassen.«
Das hatte sie sich fein ausgedacht!
Mir war schon seit einiger Zeit aufgefallen, dass sich zwischen ihr und Friedrich etwas anzuspinnen schien. Als ich sie nun direkt darauf ansprach, wurde sie zwar rot, gestand dann aber doch, dass sie sich in Friedrich verliebt hätte.
»Ich glaube, er liebt mich auch, er weiß es nur noch nicht. Er braucht sicher nur noch einen ganz kleinen Anstoß.«
»Und den willst du ihm dann in der Brüderstraße geben, wenn du auf Lysander aufpasst?«
»Ja, wäre doch irgendwie eine günstige Gelegenheit, meinst du nicht auch?«
Doch, meinte ich, und so war es abgemacht.
Da ich keine Milch hatte und Lysander darum ausschließlich mit der Flasche aufzog, war es für ihn kein Problem, dass Klara ihm nun abends das Fläschchen gab.
Allerdings beschwor ich damit ahnungslos ein anderes Drama herauf …
Friedrich hatte sich tatsächlich ebenfalls in Klara verliebt, aber er fürchtete, sich nicht zügeln zu können, und so war er ihr immer dann schnellstens aus dem Weg gegangen, wenn es zwischen ihnen erotisch zu knistern begann.
Klara nun aber jede Nacht in der Wohnung zu wissen, nur durch ein paar Zimmerwände von ihm und seiner Begierde getrennt, machte ihn fast wahnsinnig.
»Wie konntest du mir das antun? Amanda! Ich verzehre mich vor Sehnsucht nach dieser Frau, und ich kann mich ihr doch nicht nähern, wenn ich sie nicht in Gefahr bringen will. Ich habe Angst, dass ich meine Triebe nicht genügend unter Kontrolle habe und ihr etwas
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