Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Amanda
starrte ich zum Fußende des Bettes, wo Conrad bisher gestanden hatte. Wo war er? Holte er ein Instrument, um die Nabelschnur zu durchtrennen?
Er durchtrennte sie, aber mit brutaler, roher Gewalt, nicht wie ein liebender Vater. Ganz plötzlich stand er neben mir und riss das Kind mit einem solchen Ruck von mir fort, dass die Nabelschnur platze, einriss und ein an mir klebender Rest schließlich schlaff und nutzlos zurück auf das Bett fiel. Ich schrie vor Entsetzen, als mich seine gelb leuchtenden Augen wild anstarrten. Die Züge seines geliebten Gesichtes verwandelten sich binnen weniger Momente in eine tierische Fratze, die, mit schwarzem Fell überwuchert, die riesigen Fangzähne bleckte. Der Körperwuchs aus seiner Kleidung hervor, dunkel, drohend und übermächtig, und tief aus seiner breiten schwarz behaarten Brust rang sich ein entsetzlich qualvoller Schrei.
Ich erkannte schlagartig, dass Friedrich und ich einen großen Fehler gemacht hatten, weil wir Conrads erste Verwandlung in der Hochzeitsnacht nicht ernst genug genommen hatten. Weil wir uns einredeten, dass es ein einmaliges Phänomen oder eine Sinnestäuschung gewesen sei … die fantastische Ausgeburt einer postkoitalen Hysterie … Was für ein verhängnisvoller Irrtum!
Klara wollte sich auf Conrad stürzen, aber er fegte sie mit einer herrischen Armbewegung beiseite, sie schrie auf, fiel zu Boden und rührte sich nicht mehr. Ich war nahezu gelähmt und konnte nur leise wimmern: »Conrad … Conrad, was tust du … es ist dein Kind … du tust ihm weh … gib es mir zurück … ich bin seine Mutter … der Säugling braucht seine Mutter … Siehst du denn nicht, wie klein das Kindchen ist … so zart … man muss vorsichtig mit ihm umgehen … Conrad, bitte!!!«
Aber Conrads Verwandlung war schon zu weit fortgeschritten, meine Worte erreichten ihn nicht mehr. Was in ihm zu menschlichen Regungen fähig war, hatte die Bestie bereits verdrängt. Als ich sah, wie sich nun auch noch seine Hände in tierische Pranken verwandelten und sich blutunterlaufene Krallen in den Säugling bohrten, da drohte mir vor Entsetzen ein Herzstillstand.
Trotzdem konnte ich ihm mein Neugeborenes nicht widerstandslos überlassen. Alles in mir bäumte sich dagegen auf und ich versuchte meine vampirischen Kräfte zu mobilisieren. Aber ich war durch die Geburt geschwächt, und zu allem Unglück begannen nun erneute Wehen, die den zweiten Zwilling ins Leben pressen wollten. Der Schmerzüberwältigte mich und ich war zu nichts anderem fähig, als ihn keuchend und hechelnd über mich ergehen zu lassen. Das große schwarze Monster mit den gelben Augen, halb Mensch, halb Wolf, gab mein Kind nicht frei, sondern presste es mit schrecklichen Krallenhänden an seine breite haarige Brust, stieß das Fenster auf und entfloh laut aufjaulend in die Nacht.
Ich sah, dass der Mond am Himmel stand. Rund und weiß und vollkommen. Dann verließ mich das Bewusstsein.
Die Geburt meines zweiten Kindes erlebte ich wie in einen dumpfen Nebel eingehüllt, der jedes Geräusch und jedes Gefühl erstickte. Klara, die bald wieder zu sich gekommen war, holte es mit Friedrichs Unterstützung aus mir heraus. Es war klein und schrumpelig und mit meinem Erstgeborenen nicht zu vergleichen, und ich begann es sofort dafür zu hassen. Doch dann wurde mir bewusst, dass ich in dasselbe Verhaltensmuster verfiel wie meine Mutter. Das beschämte mich, und ich schwor mir, dem Kleinen von nun an umso mehr Liebe zu geben. Es war ein Junge und ich nannte ihn Lysander, in der Hoffnung, dass aus ihm ein freier Mann werden würde, der dem Fluch, der über den Vanderborgs lag, entkommen konnte.
Klara und Friedrich hatten sich noch in der Nacht, kaum dass Lysander meinem Körper entschlüpft war, aufgemacht, um nach Conrad und dem zweiten Zwilling zu suchen, mussten aber schließlich wegen des widrigen Wetters die Suche abbrechen. Erneuter Schneefall hatte einsetzt, zu dem orkanartige Winde hinzukamen, sodass sie schließlich in einen regelrechten Schneesturm gerieten, der ihnen inwenigen Minuten die Gesichter zu Eis erstarren ließ und selbst einen Vampir wie Friedrich überforderte. So blieb ihnen nur der Rückzug ins Haus.
Ich fiel in eine dumpfe Melancholie, aus der ich mehrere Tage nicht herausfand, und immer wenn Klara zu mir kam und mir Lysander mit einem Fläschchen in die Arme legte, musste ich daran denken, dass mein zweites Kind irgendwo in der Schneewüste lag, vom eigenen Vater verschleppt und
Weitere Kostenlose Bücher