Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Amanda
zerrte jemand den Mann aus der Tür und öffnete sie ganz. Die beiden älteren Hitlerjungen standen davor. Sie bemerkten Lysander zunächst nicht und wandten sich darum sofort an mich.
›Ach nee, wen haben wir denn da? Kleine Schwangerschaftsberatung? Oder hat das Judenschwein die Abtreibung schon gemacht?‹
Ich fühlte, wie mir sämtliches Blut aus dem Gesicht wich, und starrte mit schreckgeweiteten Augen auf den reglosenKörper des Apothekers. Aus einer Wunde am Hinterkopf floss Blut.
›Man muss ihm helfen‹, stammelte ich. ›Er braucht einen Arzt!‹
›Sei froh, wenn du keinen brauchst!‹, sagte ein großer blonder Kerl mit näselndem Sprachfehler. ›Dieses Judenschwein pfuscht doch nur an deutschen Frauen herum, um zu verhindern, dass sie dem Führer Kinder schenken.‹
›Aber nein …‹, wollte ich protestieren, doch Lysander fiel mir ins Wort.
›Können wir jetzt gehen?‹, fragte er mit wackeliger Stimme. ›Ich, äh, habe sie schon … äh … kontrolliert.‹
Die beiden großen Jungen sahen Lysander erstaunt an.
›Wat machst denn du hier? Icke kiek ja woll nich jrade!‹, fragte nun der andere im Berliner Hinterhofjargon.
Und der Wortführer sagte: ›Klar kannste gehen, zurück zu deiner Einheit … Ich habe da meine spezielle Art zu kontrollieren … bisschen gründlicher … wenn du … verstehst? Die Judenschickse bleibt hier.‹
Lysander hatte nur Judenschickse gehört, als er schneller, als ich gucken konnte, dem viel größeren Hitlerjungen wütend seine Faust ins Gesicht schlug.
›Das sagst du nicht noch mal!‹, schrie er außer sich. ›Das Mädchen ist die Schwester meines Freundes!‹
Doch sie waren zu zweit und durchtrainiert und für solche Händel geschult. Bald hielt der eine Kerl Lysander fest, während der zweite ihn nach allen Regeln der Kunst zusammenschlug und dann begann, ihm seine Uniform vom Körper zu reißen.
›Judenfreunde haben in der Hitlerjugend nichts zu suchen!‹, brüllte er dabei.
Als ich ihm schreiend zu Hilfe eilen wollte und mit meinenFäusten auf seinen Peiniger einschlug, holte der nur mit einer einzigen Bewegung aus und schleuderte mich mit großer Wucht gegen die Hauswand, an der ich benommen herunterglitt. Am Sockel blieb ich zusammengekauert liegen.
Der Vollmond war als große rötliche Scheibe zwischen den Häusern hervorgetreten und beleuchtete gespenstisch die gewalttätige Szene. Lysanders Peiniger ließ von ihm ab und kam zu mir herüber. Der andere riss Lysander den auf seine Brust gesunkenen Kopf an den Haaren zurück.
›Kiek hin, dat de siehst, wat wir mit deene Schickse machen!‹
Der große Blonde begann auf mich einzutreten, schützend riss ich die Arme vor mein Gesicht, so sah ich nicht, was mit Lysander geschah. Ein Tritt traf mich in den Unterleib und ich krümmte mich vor Schmerz. Im selben Moment ertönte ein derart unmenschlicher Schrei, dass mir das Blut in den Adern gefror, ich hörte noch ein entsetzliches Knurren, merkte, wie der Hitlerjunge schreiend von mir abließ und verlor das Bewusstsein.«
Sarah brach erneut in Tränen aus und ich sah fragend zu Friedrich hinüber, der mit geschlossenen Augen reglos im Sessel lag. Nun setzte er sich auf und sagte ernst:
»Es ist nur einem glücklichen Zufall zu verdanken, dass Sarah vor dem Schlimmsten bewahrt worden ist …« Mit Entsetzen dachte ich an Lysander. Wieso hatte Friedrich ihn nicht mitgebracht, wenn er dabei gewesen war? Was war mit ihm passiert? Panik ergriff mich.
»Wo, wo ist Lysander? Warum ist er nicht auch hier? Was haben sie mit ihm gemacht?« Meine Stimme klang schrill vor Erregung. Ich starrte Sarah an, sie schüttelte den Kopf, hielt aber gleich mit schmerzverzerrtem Gesicht inne.
»Ich, ich weiß es nicht … ich war ohne Bewusstsein und bin erst in Friedrichs Auto wieder zu mir gekommen …«
Friedrich stand auf, trat zu mir und zog mich aus dem Sessel.
»Ich möchte mit dir alleine sprechen«, sagte er sanft, und ich wusste in dem Moment, dass er mir eine schreckliche Botschaft bringen würde.
»Ist er tot? Ist Lysander tot?«, stammelte ich.
»Komm mit in mein Zimmer«, sagte er und schob mich aus der Tür des Salons in den Flur. Dort warf ich mich ihm an die Brust und schlug mit meinen Fäusten nach ihm.
»Sag es mir«, schrie ich, »sag es mir endlich. Ich bin seine Mutter, ich habe ein Recht darauf, es sofort zu erfahren!«
Unter Mühen, aber zielstrebig und beharrlich schob er mich in sein Herrenzimmer, das früher dem Großvater
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