Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Amanda
rassenreinem deutschem Blut, auf das Bett, während Friedrich und Klara, vitalisiert und voller Elan, noch ein paar alte Freunde treffen wollten.
Ich dachte über die Begegnung mit Lysander nach.
Seit heute war er nun tatsächlich in der Hitlerjugend, und wie ich ihn verstanden hatte, war er auch gleich zusammen mit Alfred zu seinem ersten Einsatz bei einer Razzia eingeteilt worden.
»Das wird eine lustige Keilerei«, hatte er strahlend gemeint und hatte sich mit Braunhemd und Koppel in die Brust geworfen. Wie einfach es doch war, die Flamme in diesen jungen Menschen mit ein paar griffigen Parolen und deftigen Aktionen zu entzünden. Noch ein paar Symbole, Fackeln, Uniform und Standarten obendrauf, Eide und Treueschwüre auf Fahne, Führer und Vaterland und die gläubige Gefolgschaft war in ihre kritiklosen Herzen gepflanzt.
Ich holte die Familienchronik hervor und setzte mich an Estelles Schreibtisch.
Berlin, am 11. Dezember 1938
Heute feiert Lysander seinen vierzehnten Geburtstag.
Es ist unfassbar, wie schnell die Zeit enteilt.
Ich würde so gerne voll Stolz auf ihn schauen, aber er ist mir entglitten, und was er tut, kann ich nicht billigen, denn es widersprichtgrundlegend meinen politischen und ethischen Überzeugungen. Doch mir sind die Hände gebunden, da er vollständig unter Hansmanns Einfluss steht. Seinem Wunsch gemäß ist er heute in die Hitlerjugend aufgenommen worden. In diesem Moment hat er seinen ersten Einsatz und wird sich wider alle Vernunft für fragwürdige Ideale schlagen. Ich hoffe, dass er heile zurückkehrt. Wir alle warten auf ihn und wünschen uns, dass er irgendwann doch wieder zu seiner Familie findet und zu uns nach Blankensee kommt.
Amanda
Ich hielt den Tintenfüller noch in der Hand, als ich Friedrich an der Tür hörte, der offensichtlich noch einen späten Gast mitbrachte. Während ich mich erhob, um zu schauen, wen er da angeschleppt hatte, hörte ich eine weibliche Stimme herzzerreißend schluchzen. Ich hetzte in den Flur und sah dort in Friedrichs Begleitung völlig aufgelöst Aarons Schwester Sarah Rosenbaum stehen.
Ich zog sie in den Salon, drückte sie in einen Sessel und reichte ihr ein Glas Wasser und ein weißes Batisttaschentuch, damit sie sich die Tränen trocknen konnte.
»Was ist denn geschehen?«, fragte ich Friedrich, der sich in einen Sessel geworfen und eine Zigarette angezündet hatte, an der er heftig zog.
»Diese Nazi-Schweine!«, schnaufte er wütend. »Und euer feines Söhnchen war dabei … und … ach, lass es dir von Sarah erzählen, ich ersticke sonst vor Zorn!«
Es stellte sich heraus, dass Sarah zum Tanzen und Musikhören in einem der verbotenen Clubs gewesen war, in dem man zu amerikanischer Musik tanzen konnte und denich mit Conrad, Friedrich und Klara auch schon mehrmals besucht hatte. Offenbar war Friedrich, nachdem er Klara zu ihren Freunden gefahren hatte, noch dorthin gegangen und hatte Sarah getroffen.
»Ich war mit einer Freundin dort«, erzählte sie nun stockend, »und es war gerade so schön. Doch dann brach plötzlich das Trompetensolo ab und an der Tür zur Vorderkneipe entstand ein Tumult. Ein Trupp Hitlerjungen stürmte das Lokal und ich sah, dass Alfred und Lysander dabei waren. Die plusterten sich mächtig auf, denn offenbar war es ihr erster Einsatz. Ich fand sie irgendwie rührend in ihrem Eifer und nahm darum die ganze Aktion zunächst nicht ernst. Das war ein Fehler, denn hinter ihnen stürmten die älteren Hitlerjungen herein, und binnen Minuten stand der Tanzsaal kurz vorm Überkochen und jedermann versuchte den Club durch den geheimen Fluchtausgang zu verlassen. Als ich ebenfalls floh, lief ich Lysander über den Weg.
›Was machst du denn hier?‹, fragte ich. ›Weiß deine Mutter, dass du dich mit diesen Leuten einlässt?‹
Aber ehe Lysander antworten konnte, wurde ich von anderen Fliehenden in die Dunkelheit hinausgeschoben, während beherztere Jugendliche sich auf eine Keilerei mit den Hitlerjungen einließen. Ich lief davon, hörte aber bald den harten Klang der Nagelschuhe hinter mir, und als ich mich umdrehte, sah ich, dass mich zwei Hitlerjungen verfolgten.
Ich rannte schneller, als mich jemand am Arm ergriff und mit einem heftigen Ruck in eine dunkle Türnische zerrte. Ich stieß einen kleinen erschreckten Schrei aus. Nicht sehr laut, aber laut genug, dass die Verfolger ihn hörten. Dann stellte ich fest, dass Lysander neben mir in der Nische stand und noch immer meinen Arm
Weitere Kostenlose Bücher