Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Amanda
gehört hatte. Ich spürte seine Aura und sie wirkte sogleich ein wenig beruhigend auf mich. Resignation ergriff mich, als Friedrich mich in einen Sessel drückte. Es war kalt, weil nicht geheizt war, und ein kalter Schauer jagte über meinen Körper und ließ meine Zähne aufeinanderschlagen. Meine Eingeweide krampften sich zusammen … Nun sprich, Friedrich, war alles, was ich denken konnte, sprich endlich.
Er trat hinter mich und legte mir beim Sprechen die Hände auf die Schultern. »Amanda, ich fuhr mit dem Auto an der ehemaligen Apotheke vorbei, als ich im roten Schein des Mondes sah, wie ein großer blonder Hitlerjunge auf Sarah einprügelte. Noch bevor ich das Auto anhalten und ihnen zu Hilfe eilen konnte, ereignete sich etwas, was mich mit großen Schaudern erfüllt hat und das ich nicht vor Sarah erzählen wollte. Ich hörte sie schreien und dann sah ich, wie sich Lysander vom Boden erhob, einen entsetzlichen Laut von sich gab und plötzlich zu wachsenschien. Sein Körper wurde so muskulös, dass er die Kleidung sprengte, und als er sich das Hemd vom Leib riss, war sein Oberkörper schwarz und dicht behaart. Ich dachte sofort an Conrad, konnte aber den Blick nicht von diesem erschreckenden Schauspiel abwenden. Lysanders Gesichtszüge verzerrten sich auf eine unglaublich grauenvolle Art: Fangzähne brachen aus seinem Kiefer hervor und er nahm die Physiognomie eines Wolfes an … eines großen, schwarzen Wolfes. Er knurrte bösartig und die Hitlerjungen bibberten von Entsetzen. Doch er kannte kein Erbarmen. Einen nach dem anderen zerfleischte er sie, entledigte sich dann auch noch seiner Hose, und nun, ganz und gar ein Wolf, heulte er einmal klagend den Mond an, um dann in die Dunkelheit davonzuhetzen.« Er stockte einen Moment. »Du weißt, was das bedeutet …«
Wir schwiegen, denn es war eins dieser Gespräche, das Zeit zum Nachdenken lassen musste, in dem nicht auf jeden Satz gleich der nächste folgen konnte.
»Ich schaffte Sarah ins Auto und fuhr schnellstens hierher«, sagte Friedrich schließlich. »Wohin Lysander verschwunden ist, vermag ich nicht zu sagen.«
Ich zitterte noch immer, aber die Panik war einem stillen Grauen gewichen, hervorgerufen durch die Erkenntnis, dass Conrad und ich einem fundamentalen Irrtum erlegen waren, als wir annahmen, dass unsere Kinder normale Menschen wären. Eins zumindest war es nicht, und so sagte ich leise zu Friedrich:
»Ich hoffe, er wird wiederkommen, wenn der Mond untergegangen ist.«
Und während mir das Wasser in die Augen stieg, flüsterte ich: »Also ist er ein Werwolf … wie sein Vater.« Schluchzend sank ich in Friedrichs Arme und verfluchte meinSchicksal, eine Vanderborg zu sein! Denn es war dunkler als die Nacht.
Lysander kam am nächsten Morgen nicht zurück in die Brüderstraße. Also beschloss ich, wie geplant nach Blankensee zurückzufahren, um dort Conrad aus seiner Isolierzelle zu befreien, in welcher er wie üblich die Vollmondnacht verbracht hatte.
»Wenn Lysander auftaucht, bist du ja hier, Friedrich«, sagte ich. »Du kannst ihm erklären, was mit ihm geschehen ist. Sag ihm, dass er nicht verzweifeln soll, wir werden auch für ihn einen Weg finden, diesen Fluch in seine Schranken zu weisen.«
Trotz dieser optimistischen Worte war mir das Herz schwer beim Abschied, denn keiner von uns wusste, ob Lysander überhaupt noch am Leben war.
Ich war auf dem Weg in das Geheime Gewölbe, als ich aus einem Kellerverschlag ein merkwürdiges Geräusch hörte. Ratten? Nein, es klang anders. Vielleicht hatte sich ein Wildtier eingeschlichen, um Schutz vor der Kälte des Winters zu finden. Vorsichtig näherte ich mich und glaubte meinen Augen nicht zu trauen. Entsetzen und Freude überwältigten mich gleichermaßen. Wie auch immer er es geschafft hatte, sich nach Blankensee durchzuschlagen – dort im Keller zwischen Kartoffeln und Brennholz kauerte niemand anders als Lysander! Blau gefroren und nahezu bewegungsunfähig steckte er unter ein paar leeren Säcken, die ihm als Decke gedient hatten. Er war verdreckt und fast nackt, und als er vor Scham, dass ich ihn so sah, weinte, da gefroren ihm die Tränen auf den bleichen Wangen.
»Was, was ist mit mir geschehen?«, stammelte er. »Wo … bin ich?«
»In Sicherheit«, beruhigte ich ihn, legte ihm mein Schultertuch um und brachte ihn in das Geheime Gewölbe. Er sah es zum ersten Mal und war trotz seines Leides und seiner Verwirrung sofort davon fasziniert. Ich erklärte ihm, dass es ein
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