Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Amanda
äußerst unangenehm gewesen. Wie sollte ich jemandem das Innerste meiner Seele offenbaren, wenn ich befürchten musste, dass er es benutzte, um sich als Mann in mein Herz einzuschleichen? Darin beanspruchte er, wenn ich ehrlich zu mir war, auch so schon reichlich Platz, und unser Umgang miteinander war außerordentlich vertraut, möglicherweise zu vertraut … auf einer anderen Ebene zwar, aber doch weit intimer, als es zwischen Arzt und Patient die Regel war. Und da ich bezweifelte, dass dies nur an der neuen Methode von Sigmund Freud lag, sagte ich also mit aller Entschiedenheit:
»Herr Doktor Lenz, ich wünsche mit Ihnen nicht über meine Weiblichkeit zu diskutieren. Weder die meines Körpers noch die meiner Seele. Sollten Sie das nicht respektieren, müssen wir die Analyse abbrechen.«
Lenz schüttelte den Kopf.
»Amanda, Sie verstehen hier etwas völlig falsch. Wir können das nicht ausklammern. Es ist Bestandteil Ihres Wesens. Wenn Sie die Libido unterdrücken, kann das fatale Folgen haben …«
»Ich möchte zunächst einmal, dass Sie sie unterdrücken,Herr Lenz, und zwar die Ihrige . Zumindest in meiner Gegenwart. Fatale Folgen befürchte ich nur, wenn Sie es nicht tun. Ich hoffe, Sie verstehen mich.«
Ich spürte, wie es in mir vibrierte, wie mich eine Erregung ergriff, die mich trotz meiner abweisenden Worte zu ihm hinzog. Aber wenn ich ihm meine Zuneigung gestand, würde alles nur noch komplizierter werden. Es war schlimm genug, dass ich einmal so die Form verletzt hatte. Ihm konnte ich es auf keinen Fall gestatten. Ich wollte ihn nicht verlieren, und so schwieg ich und tat, was Tante Gertrud für die höchste Tugend wohlerzogener Töchter aus gutem Hause hielt – ich wahrte die Contenance.
Lenz stand auf. »Dann darf ich mich jetzt verabschieden. Wir sollten beide über dieses Gespräch nachdenken. Ohne Ihr Vertrauen kann ich die Arbeit nicht fortsetzen und müsste Sie als Patientin an Professor Müller-Weber zurückgeben.«
»Ist das eine Drohung?« Ich stand kurz vor der Explosion und mein Respekt und meine Zuneigung drohten spontan in Zorn umzuschlagen.
»Amanda, fassen Sie es auf, wie Sie es möchten. Ich frage mich, wer Ihnen diese dumme Idee, dass ich an etwas anderem als ihrer seelischen Gesundung interessiert sein könnte, in den Kopf gesetzt hat. Lassen Sie mich rufen, wenn Sie entschieden haben, ob ich Ihnen weiter als Ihr Analytiker willkommen bin.«
Er machte eine tadellose Verbeugung und ging.
Als mich der Großvater alleine im Wohnzimmer sitzen sah, war er erstaunt, denn er liebte es, im Anschluss an die Sitzungen mit Lenz bei einem Tee noch über Politik und Zeitgeschehen zu debattieren, wovon ich auch sehr profitierte,denn ich hatte bisher in meinem Leben von beidem wenig mitbekommen.
»Herr Lenz hatte es heute etwas eilig«, entschuldigte ich seine frühe Abwesenheit. »Ein dringender Fall in der Klinik.«
Er akzeptierte die Ausrede und reichte mir die Zeitung des Tages und einen Stapel Flugblätter.
»Es stehen schon wieder Wahlen an … man kann nicht durch die Stadt gehen, ohne Propaganda zugesteckt zu bekommen. Ich dachte, es interessiert dich.«
Es war zu ärgerlich, dass ich in vielem noch so ungebildet war wie eine Vierzehnjährige. Drei Jahre Anstalt waren nicht so leicht aufzuarbeiten, obwohl mich der Großvater über das Zeitgeschehen instruierte und ich jede Information aufsog, derer ich habhaft werden konnte. Jeden Tag lag ich stundenlang auf dem Bett und las mich durch Bücher und illustrierte Zeitungen, aber immer noch schämte ich mich geradezu meiner Unwissenheit und fühlte mich richtig minderwertig. Heute ganz besonders. Als Mensch, als Frau … als was auch immer!
Ich musste raus! Die Sache mit Lenz hatte mich verwirrt, und um mir meinen klaren Kopf zurückzuholen, schlich ich mich zu später Stunde leise hinaus in die kühle Nacht. Ich war nun schon einige Tage in Berlin, einer lauten Millionenstadt, in der es vor Menschen, Fuhrwerken und Automobilen wimmelte. Nach den Jahren der absoluten Isolation in der Klinik und der Ruhe auf Blankensee schmerzten mich die vielen unterschiedlichen Geräusche. Selbst jetzt in der Nacht schwieg die Stadt immer noch nicht und mein Kopf brummte. Es schneite in großen, nassen Flocken und der Wind drückte den Rauch aus unzähligen Schornsteinen in die Straßen, sodass er im Scheinder elektrischen Straßenlaternen wie ein grauer Nebel in den Gassen hing. Das Atmen fiel mir schwer. Dennoch ging ich mit schnellen
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