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Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Amanda

Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Amanda

Titel: Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Amanda Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bianka Minte-König
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Schritten in Richtung Schloss, bog dann in eine Straße ein, die zur Spree führte, überquerte dort eine Brücke und landete, nachdem ich weiter ziellos durch ein paar kleinere Straßen gelaufen war, an einem Platz, auf dem ein großer bunter Weihnachtsmarkt aufgebaut war. In hübschen Buden und an kleinen Ständen wurden weihnachtliche Handwerksarbeiten, Honigbrot und anderes Weihnachtsgebäck feilgeboten. Ein paar Kinder verkauften Spielzeug, Räuchermännchen und Pyramiden aus dem Erzgebirge oder ließen ein paar Waldteufel rotieren, wie sie die großen Brummkreisel nannten. Sie waren dick eingemummelt, sodass man kaum ihre Gesichter sah. Nur die blau gefrorenen Nasen. Die meisten Stände und Buden waren schon geschlossen, aber in der Mitte des Marktes herrschte noch Geschäftigkeit. Dort standen die Menschen dicht gedrängt für einen Becher Punsch oder Feuerzangenbowle an, um sich vor dem eisigen Nachhauseweg noch ein bisschen aufzuwärmen. Drei gut gekleidete junge Männer mit Mantel, Hut und hellem Schal fielen mir auf, weil sie ziemlich laut und anhaltend lachten. Als ich in ihre Nähe kam, hörte ich, dass sie in einem Theater gewesen waren, wo sie eine wohl etwas frivole Revue besucht hatten. Jedenfalls sprachen sie sehr freizügig über die außerordentlich schönen Beine der Tänzerinnen. Einer von ihnen, etwas älter als ich, faszinierte mich sofort. Sein Gesicht war glatt rasiert und er hatte eine hohe Stirn und klare blaue Augen, die von der Hutkrempe ein wenig beschattet wurden. Die Nasenspitze war, wie bei fast allen Leuten hier, rot von der Kälte, taute aber wohl gerade im Dampf der heißen Feuerzangenbowle etwas auf. Ich hatteihn vermutlich viel zu neugierig angestarrt, denn er schien meinen Blick plötzlich zu spüren und sagte, den Becher absetzend, in meine Richtung: »So allein, schönes Fräulein? Das sollten wir ändern!« Er trat zu mir und zog mich an den Stand, wo er mir ebenfalls Bowle aufnötigte, an der ich jedoch nur nippte. Seine Begleiter lachten.
    »Ein leibhaftiger Weihnachtsengel, du hast aber auch wieder ein Glück!«
    Seine unerklärliche Anziehungskraft, die er seit dem ersten Blick auf mich ausübte, war inzwischen noch stärker geworden. Wie konnte das sein? Er war schließlich ein völlig Fremder für mich! Ihm schien es jedoch genauso zu gehen, denn er lockte mich bald in eine dunkle Ecke hinter dem Weihnachtsmarkt. Dort zog er mich schäkernd in seine Arme und begann mein Gesicht zu küssen. Ich spürte ein warmes Ziehen in meinen Eingeweiden und fühlte, wie mein Körper sich ihm entgegendrängte. Doch als seine nach Feuerzangenbowle schmeckenden Lippen meinen Mund berührten, da brach in höchster Erregung das Monster in mir wieder hervor. Mit brutalem Biss zerfetzte es ihm den Hals und schlürfte gierig seinen Lebenssaft. Sein Blut tropfte mir aus den Mundwinkeln am Kinn entlang, und als sich die Bestie in mir langsam zurückzog, war mir mein Tun so widerwärtig, dass ich mich unter Tränen in einen Hauseingang übergeben musste. Das Schlimmste aber war, dass sich in meinen Eingeweiden ein erotisierendes Gefühl absoluten Wohlbehagens ausbreitete. Ob es das war, was Freud unter Libido verstand? Die absolute Hingabe an den Trieb?
    Ich trug den leblosen Körper zum Ufer der Spree und drückte ihn mechanisch an einer offenen Stelle im Eis unter die gefrorene Oberfläche.
    Als ich zur Brüderstraße zurückeilte, hörte ich von der anderen Seite des Flusses Geschrei und Schüsse herüberdringen.
    »Es herrschen überall revolutionäre Zustände«, hatte mich der Großvater vor nächtlichen Spaziergängen gewarnt. »Es ist gefährlich, zwischen die Fronten rivalisierender Parteien und Verbände zu geraten. Außerdem treibt sich viel zwielichtiges Gesindel in der Stadt herum.«
    So ging ich, mit dem Gefühl einer dumpfen Bedrohung im Nacken, schnellen Schrittes am Wasser entlang und war froh, als ich endlich die Wohnung erreichte. Dort setzte ich mich an Estelles Sekretär und nahm das Bündel Briefe in die Hand, welches ich in einem versteckten Fach gefunden hatte.
    Es war mit einem rosaroten Seidenband umschlungen. Ich öffnete es und zog ein Blatt Büttenpapier heraus. In Mutters feiner, schwungvoller Handschrift stand darauf: Größeres wolltest auch du, aber die Liebe zwingt all uns nieder … Friedrich Hölderlin
    Ich fühlte meine Mutter plötzlich ganz nah und konnte ihr Leid förmlich atmen, und noch während ich das Blatt sehr schnell wieder in den Briefstapel

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