Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Amanda
ich ein nicht weniger aufregendes Buch mit dem Titel »Die beglückte Ehe«, das mich sehr erschöpfend über das Liebesleben zwischen den Geschlechtern aufklärte.
Es ließ mich nahezu auf jeder Seite innerlich erröten.
Nach zwei Tagen ununterbrochener Lektüre und einigen schamhaften oder vielleicht doch eher schamlosen Selbstversuchen hatte ich es ausgelesen und fand es ausgesprochen praxistauglich.
Ich fragte mich, ob Conrad Lenz das Buch wohl ebenfalls kannte. Das brachte mich dazu, nun doch einmal ernsthaft über ihn als Mann nachzudenken.
Ich hatte das erotisierende Kribbeln nicht vergessen, das er in mir ausgelöst hatte, als ich im Blutrausch der Bestie über ihn herfallen wollte. Und sosehr Lenz es auch selbst noch einmal beschworen hatte, er war an jenem Tag alles andere als nur mein »Therapeut« gewesen. Jedenfalls, was mich anbetraf, hatte ich ihn von seinem Sockel der Unnahbarkeit heruntergestoßen, der es mir bisher unmöglich gemacht hatte, etwas anderes in ihm zu sehen als eine Autorität,in deren Händen meine Gesundung und also mein ganzes künftiges Schicksal lag. Aber weil das auch weiterhin so war, widerstrebte es mir, ihm noch mehr Macht über mich zu geben, indem ich ihn auch nur ein Fünkchen als Mann begehrte. In diesem Zwiespalt zwischen Vernunft und Libido siegte schließlich meine ungezähmte freiheitssüchtige Seele und ich beschloss, dass Lenz sich besser weiterhin ausschließlich meiner Psyche widmen sollte. Denn mehr als alles andere ersehnte ich meine Freiheit und ich wollte nie wieder in die Klinik von Professor Müller-Wagner zurückkehren müssen. Sofern ich Lenz dafür brauchte, sollte er mir weiterhin willkommen sein, alle anderen Gedanken und Gefühle mussten sich diesem Ziel unterordnen. Also bemühte ich mich, sie zu verscheuchen, was mir auch weitgehend gelang. Doch in meinem Herzen blieb eine unfassbare Traurigkeit zurück.
Ob Lenz jemals wieder bei mir auftauchen würde?
In dieser melancholischen Stimmung kam es mir sehr zupass, dass der Großvater eine Überraschung geplant hatte. Er nahm mich mit zu einem der Kabaretts, in denen er für die Effektbeleuchtung sorgte. Es hieß Café Größenwahn und dargeboten wurde eine bunte Revue mit diversen Formen der Kleinkunst.
»Setz dich hierher und amüsiere dich gut«, empfahl er mir und stieg dann selbst hinter das Lichtpult, von dem aus er die elektrischen Scheinwerfer steuerte. Das sah sehr technisch aus, und ich fand es höchst beachtlich, dass er damit umgehen konnte. Staunend saß ich dann an einem der Tische und ließ mich von dem abwechslungsreichen Programm auf der kleinen Bühne gefangen nehmen, bei dem Gassenhauer, Chansons und Couplets vorgetragenwurden, auf dem Klavier oder mit dem Akkordeon vom Künstler selbst begleitet. Jeweils mit starkem Applaus gefeiert. Der steigerte sich frenetisch, als eine dunkelhaarige, mädchenhafte Frau im Schulmädchenkostüm die Bühne betrat.
»Det is die Blandine Ebinger!«, brüllte mir mein Tischnachbar zu. »Und det da am Klavier, det is ihr Jatte, der Hollaender, Friedrich Hollaender.«
Ich schaute zum Klavier hinüber, wo ein kleiner Mann, mit wenig Haaren und einer großen Nase die ersten Töne anschlug, woraufhin sofort Stille im Publikum herrschte.
Aber am Ende jeden Liedes brandete der Jubel erneut auf. Was immer die Diseuse im Stil einer Berliner Hinterhausgöre vortrug, das Publikum war entzückt von ihr, und auch mir kamen die Tränen, als sie in rührender Schlichtheit dem verzweifelten Traum des armen Mädchens Ausdruck gab, das sich nichts sehnlicher wünschte, als in einem schönen weißen Seidenkleid im Sarg liegend, wenigstens einmal die Aufmerksamkeit ihrer Mitmenschen zu bekommen, die es in seinem armseligen Leben nie erfahren hatte.
Während des Vortrags herrschte eine betretene Stille. Und als ich mich umsah, sandten viele der ausgemergelten, hoffnungslosen Gesichter eine ähnlich deprimierende Botschaft aus.
»…wenn ick mal tot bin, ach det wird zu scheen!«
Spät am Abend nach unserer Heimkehr zog mich der Spiegel noch einmal magisch an. Wieder betrachtete ich mich in meiner Nacktheit und fand, dass ich sehr stark den bleichen Jugendstilnymphen auf dem Wandgemälde im Esszimmer glich, aber leider nicht den Diseusen auf der Bühne, die mich mit ihrer prallen Weiblichkeit besondersfasziniert hatten. Gegen sie kam ich mir wie scheintot vor und glich allenfalls Blandine Ebinger, wie sie bleich geschminkt von ihrem Mädchentod
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