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Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Amanda

Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Amanda

Titel: Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Amanda Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bianka Minte-König
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ein wenig aus dem Ruder zu laufen schien. Was hatte in dem erotischen Buch gestanden: »Der Kuss ist oft der Beginn des Vorspiels in der Liebe …?« Schlagartig fielen mir Dutzende dort beschriebene Kussvarianten ein. Hochinteressant und sicherlich wunderbar stimulierend, aber die wenigsten davon schienen mir an einem öffentlichen Ort wie diesem Ball angebracht. Andererseits war ein Verbrüderungskuss ja etwas ganz anderes und vollkommen harmlos und unerotisch.
    So hielt ich ihm naiv die Wange hin, auf die er auch eher dezent ein Küsschen hauchte. Dabei hatte ich allerdings übersehen, dass es zwischen uns nicht zum ersten Mal knisterte. Auch hatte ich nicht bedacht, dass im erheiterten und angeheiterten Zustand keiner von uns beiden mehr in der Lage sein würde, das eigene Begehren zu zügeln. Er seine Libido und ich meinen Blutdurst. So lagen wir uns Sekunden später in den Armen und verschlangen einandernahezu in einem sehnsüchtigen Kuss. Ich spürte seine Lippen heiß auf meinem Mund, und während seine Zunge sich daranmachte, ihn sanft aufzuschließen, strebte ich ihm mit allen Fasern meines Körpers entgegen und genoss diese überraschend intime Zärtlichkeit.
    Aber je länger der Kuss anhielt, umso intensiver wurde er, und mein Erstaunen wich einer plötzlichen und immer wilder werdenden Gier, sodass ich schließlich das Gefühl hatte, ihn mir ganz und gar einverleiben zu müssen. Das Monster war wieder erwacht und ungezügelter als je zuvor. Ich spürte ein Knacken in meinem Kiefer und einen leichten Schmerz, als meine Eckzähne begannen sich weiter vorzuschieben, damit ich ihn endlich … endlich beißen konnte … tief und leidenschaftlich … bis auf sein Blut …
    Was war ich im Begriff zu tun? Entsetzt zuckte ich zurück, stieß ihn mit letzter verbliebener Willenskraft von mir und raste, so schnell es die hohen Absätze meiner Schuhe gestatteten, aus dem Saal, die Freitreppe hinunter in den kleinen Park des Anwesens. Ich rannte und rannte und brach schließlich auf einer Steinbank keuchend und noch immer vor Erregung zitternd nieder. Dort saß ich eine Weile in der eiskalten Nacht und schämte mich. Meine Zähne zogen sich wieder zurück in den Kiefer und ein wenig Speichel floss mir aus dem Mundwinkel, den ich mit einem Tüchlein aus meinem bestickten Pompontäschchen abtupfte.
    Ich hatte gerade die Augen für einen Moment geschlossen, als die Stimme von Lenz an mein Ohr drang.
    »Amanda«, stammelte er keuchend, »warum … läufst du … vor mir davon?«
    »Weil ich mich so von meinem Therapeuten nicht küssen lassen kann!«
    Er reagierte ungehalten. »Kannst du nicht ein Mal den Therapeuten vergessen?«
    Nun erstaunte er mich, denn was das anging, hatte er sich schließlich immer auf seine professionelle Funktion berufen! Jetzt sah er das offenbar anders.
    »Kann ich nicht wenigstens heute, an Silvester, mal nur ein Mann für dich sein?« Er kniete sich vor mich in den Kies des Weges und sah trotz dieser an sich lächerlichen Pose wild, verwegen und unglaublich attraktiv aus. Geradezu zum Anbeißen, dachte ich unernst. »Ein Mann, Amanda, der fasziniert ist von deiner Schönheit, ein Mann, der dich verehrt und begehrt … die Libido, Amanda, die Libido ist …«
    Ich sprang auf. Um das zu diskutieren, war hier nun wirklich nicht der richtige Ort! Ich wollte überhaupt nichts mit ihm diskutieren, ich wollte ihn nicht einmal in meiner Nähe haben, denn irgendwie hatte er einen unheilvollen Einfluss auf mein Gebiss, in dem es schon wieder knackte und knirschte.
    »Herr Lenz …«
    »Conrad, wenn ich bitten darf ! Vergiss nicht, wir sind Blutsbrüder …«
    Ich musste an mich halten, um nicht laut loszulachen. Mein lieber Conrad, dachte ich, wenn du wüsstest, was Blutsbrüderschaft mit mir wirklich bedeutet, dann würde dir jetzt vor Entsetzen dein Lebenssaft in den Adern gerinnen! Aber das behielt ich für mich und sagte stattdessen so vernünftig, wie es mir unter dem Druck meiner eigenen Leidenschaft möglich war:
    »Also gut, Conrad, es gehört sich nicht, dass wir zu lange vom Fest fortbleiben, man könnte über uns munkeln … das kann weder dir noch mir angenehm sein … lass uns also sofort zurück in den Saal gehen.«
    Im selben Moment begann das große Brillantfeuerwerk, und die Ballgäste strömten aus der Villa auf die umlaufende Terrasse, um dem Schauspiel beizuwohnen.
    So fasste ich Conrad bei der Hand und zerrte ihn mit mir. »Komm, komm, das dürfen wir nicht versäumen«, rief ich

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