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Die dunkle Chronik der Vanderborgs - Estelle

Die dunkle Chronik der Vanderborgs - Estelle

Titel: Die dunkle Chronik der Vanderborgs - Estelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bianka Minte-König
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Beschaulichkeit von Gut Blankensee aufwachsen konnte. Der Einklang mit der Natur, die Pferde, die sie so liebte, und der Hund … das alles wäre ihr in Berlin abgegangen und Käthe und Gretchen kümmerten sich um sie wie um ein eigenes Kind.
    Die Luft im Bauch des Molochs war schmutziger denn je, denn in einem Gürtel um Berlin hatte sich Industrie niedergelassen, die zwar vielen Menschen Arbeit gab, jedoch Wasser, Luft und Land verseuchte. Der Schlote Qualm verdunkelte den Himmel und hing, wie jetzt im Winter, feucht-kalter Nebel in den Straßen, nahm einem die Luft den Atem, anstatt zu erfrischen.
    Vanderborg hatte eine schwere Influenza so leidlich überstanden und hustete immer noch erbarmungswürdig, und so lud ich ihn auf recht bald nach Blankensee ein, wo ihn die klare Winterluft sicherlich Linderung seines Leidens bringen würde. Aber er konnte sich von den Verpflichtungen nicht lösen, die er gegenüber dem Großen Pilati eingegangen war.
    »Ihr müsst jemanden anlernen«, meinte Friedrich ebenfalls um den Vater besorgt, »der Euch die Maschinen bedient. Es kann nicht sein, dass Ihr in Eurem Alter jeden Abend unter dem Bühnenboden herumkraucht, um dem Großen Pilati seine Illusionen zu ermöglichen.«
    Vanderborg nickte und versprach sich darum zu bemühen und dann sobald als möglich eine längere Zeit nach Blankensee zu kommen.
    Am Abend des 15. Januar 1912 ging ich mit Friedrich und Amadeus in den Neuen Club , wohin es uns seit dessen Gründung im Jahre 1909 regelmäßig zog, weil sich dort viele Studenten und junge Intellektuelle, Künstler und Dichter trafen. Immer gab es ungewöhnliche Bilder zusehen und Kostproben neuester Lyrik zu hören, die ganz anders war als alles, was ich in meiner Bibliothek in den Gedichtsammlungen fand. Nicht völkisch, nicht heldisch, nicht einmal national und schon gar nicht romantisch. Aber dennoch von einem poetischen Zauber und einer genauen Beobachtung in der oft schmerzhaft brutalen Bildhaftigkeit ihrer Sprache. Ich verstand nichts von Poetik und Amadeus auch nicht, aber die Gedichte von Georg Heym zum Beispiel ließen uns seit einiger Zeit nicht los und so kamen wir immer wieder in den Club, um Neues aus seiner Feder zu hören.
    Diesmal herrschte eine geradezu euphorische Stimmung, denn die Sozialdemokraten waren bei der Reichstagswahl am 12. Januar stärkste Partei geworden. Alle, die in Angst um den Frieden in Europa lebten, atmeten auf, denn es war undenkbar, dass eine sozialdemokratische Partei jemals ihre Zustimmung zu einem Krieg geben würde. Immerhin hatte sich die 2. Internationale bei ihrem letzten Treffen in Leipzig mit einem klaren Manifest gegen jede Kriegstreiberei ausgesprochen und aktiven Widerstand von allen Werktätigen im Kriegsfall gefordert. Aber Kriege auf dem Balkan und in Marokko sowie die stetig steigenden Ausgaben für die Rüstung hatten die Pazifisten in Deutschland dennoch alarmiert und misstrauisch gemacht.
    »Die Herren Kanzler und Kaiser sagen viel«, hatte Friedrich noch vor wenigen Tagen gemeint, »aber wenn es um ihren Hegemonialanspruch geht, geben sie kein Pardon.«
    Und Amadeus hatte genickt und ergänzt: »Wo Waffen sind, schreien sie danach, auch eingesetzt zu werden.«
    Zwar hatte der seit einigen Jahren verstärkte Ausbau der Flotte Gertruds Vater und der Reederei Hoopmann & Söhne dicke und höchst lukrative Aufträge beschert, dochtrug auch das nicht wirklich zur Beruhigung der friedliebenden Menschen bei.
    Im Neuen Club jedenfalls war die Gefährdung des Weltfriedens ein immer aktuelles Thema, das auch in den Gedichten seinen Niederschlag fand. Mir hatte eine eisige Faust ans Herz gegriffen, als Georg zum ersten Mal sein Gedicht Der Krieg vorgestellt hatte. Seine Visionen, für die er in mächtigen Bildern Ausdruck fand, ließen mir plötzlich all seine Schrecken, die ich in den vergangenen Jahrhunderten erlebt hatte, mit einer Bedrohlichkeit gegenwärtig werden, dass ich mich ganz eng an Amadeus drückte, um nur ja ein menschliches Wesen zu spüren, das den im Raum lastenden kalten Schatten Wärme und Hoffnung entgegensetzte.
    Aber noch im Schlaf verfolgten mich Georgs Worte.
    Aufgestanden ist er, welcher lange schlief,
    Aufgestanden unten aus Gewölben tief.
    In der Dämmrung steht er, groß und unerkannt,
    Und den Mond zerdrückt er in der schwarzen Hand.
    …
    Zahllos sind die Leichen schon im Schilf gestreckt,
    Von des Todes starken Vögeln weiß bedeckt.
    …
    Ich schob den Gedanken fort, denn heute wollten wir mit

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