Die dunkle Chronik der Vanderborgs - Estelle
all den anderen jungen Leuten fröhlich sein und den Sieg der Sozialdemokraten begießen, der den Krieg wieder ein wenig weiter von Deutschland weggerückt zu haben schien. Zudem gaben uns über vierzig Jahre Frieden Hoffnung.
Doch die war trügerisch.
Da es im Winter üblich war, die Spree und die Havel als kurze Verkehrswege zu benutzen, liefen wir auchheute auf Schlittschuhen Hand in Hand bis zum Spreebogen, wo wir dann die Eisen abschnallten, um zum Neuen Club zu gehen. Dort feierten wir bis weit in die Nacht und ließen uns dann, eine leicht angeheiterten Schar, mit einigen Kutschen hinaus zur Havel fahren, wo wir im Mondschein den Spaß beim gemeinsamen Schlittschuhlaufen noch ein wenig ausdehnten.
Der Nebel, den ich schon am Abend in den Straßen bemerkt hatte, hätte uns warnen können, denn er kündete von einer für diese Jahreszeit untypischen Tauwetterlage, welche schon seit einigen Tagen die russische Kaltluft zurückgedrängt und auf den Berliner Flüssen das Eis gebrochen hatte, sodass auf einem Teil der bewegten Gewässer bereits Schollen trieben.
Allein an der Stelle, wo wir uns die Schlittschuhe anschnallten, wirkte das Eis noch fest und unversehrt.
Ich drehte gerade mit Amadeus ein paar ausgelassene Pirouetten, als vom Kameraden Ernst Balcke ein Schrei ertönte, der mir das Mark gefrieren ließ, so in höchster Not schien er getan. Wir stockten abrupt und sahen, wie Ernst mit seinen beiden Beinen in einem plötzlich aufgebrochenen Eisloch steckte, mit dem Oberkörper jedoch noch auf der weiß glitzernden Eisdecke liegend.
Wir hatten noch kaum reagieren können, um ihm zur Hilfe zu eilen, als Georg sich in kopflosem Rettungseinsatz für den Freund auf Schlittschuhen zu ihm hinbewegte und, noch bevor er ihn erreichen konnte, ebenfalls einbrach.
Von allen Seiten liefen die Freunde herbei, hielten sich aber nun vorsichtig auf Abstand. Zwei, drei hatten sich auf das Eis gelegt und eine menschliche Kette zu Ernst geschmiedet, den sie auch tatsächlich ergreifen konnten, umihn auf festen Grund zu ziehen. Niemand hatte derweil bemerkt, dass Georg fehlte. Das Loch, in dem er verschwunden war, lag dunkel und das Wasser darin schwappte wie die schwarze Brühe des Todes gegen das weiße Eis, das einem Leichentuch gleich seinen versunkenen Körper bedeckte.
Ich schrie und weinte und schlug verzweifelt mit meinen Fäusten gegen Amadeus’ Brust.
»Warum er? Warum? Warum?«
»Weil es keinen Gott gibt«, sagte Friedrich leise.
Und weil die Freunde und Kameraden Georg Heym schließlich nur noch tot aus der Havel ziehen konnten, mit Augen, die wie Glas zerbrochen waren, gingen wir schweigend und niedergedrückt zurück in die Brüderstraße. Als ich abends an meinem Bureau sitzend ein Gedicht von ihm aus seiner erst jüngst bei Rowohlt in Leipzig erschienenen Sammlung Der einzige Tag las, da war ich mir auf einmal ganz sicher, dass Georgs junges Leben so früh endete, weil er in seinen Visionen die Zukunft schon gelebt und durchlitten hatte und ihm darum das wirkliche Grauen, das uns allen noch bevorstand, gnädig erspart bleiben sollte.
»Es wird Krieg geben«, hatte ich leise gesagt, als ich mich von Amadeus und Friedrich vor dem Haus in der Brüderstraße verabschiedete.
»Auch ich habe den Schrei der Totenvögel schon im Ohr.«
Er war tatsächlich da, aber er war noch leise, denn wir hatten noch zwei Jahre Schonfrist.
Am nächsten Abend saß ich auf Blankensee an Amandas Bett und las ihr ein Gedicht vor. Eine Gepflogenheit, die das Singen von Schlafliedern abgelöst hatte, als sie meinte, dafür allmählich zu alt zu sein. Dass ich in meinemArbeitszimmer Gedichte las, war für sie gleichbedeutend mit dem Studium einer Geheimwissenschaft, und so war sie begierig darauf, etwas von meinen Geheimnissen abzubekommen und lauschte jedes Mal ganz intensiv den ungewohnten Worten zugekehrt. Diesmal wählte ich ein paar Verse von Georg, die er mir einmal flüchtig auf ein Blatt gekritzelt hatte.
»Wenn die Abende sinken
Und wir schlafen ein,
Gehen die Träume, die schönen,
Mit leichten Füßen herein …«
Wie mochten seine Träume ausgesehen haben, so schön noch damals und dann plötzlich kurz vor seinem Tod so schwarz und voll Düsternis, als hätte er sein frühes Ende geahnt. Würde es meinen Träumen genauso gehen? Heute noch klares Silber und morgen schon verrostetes Eisen, verbogen und zu schwarzer Schlacke im Feuerofen des Schicksals zusammengebacken?
Ich weinte leise, schwere Tränen tropften
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